Stark und authentisch im Wandel der Zeiten

Weite Sicht – Konkrete Praxis: Welchen Veränderungen stellt sich die Sozialdiakonie? Mit diesem Themenkreis beschäftigten sich rund 50 Kirchgemeinderäte und Kirchgemeinderätinnen sowie Sozialdiakonen und Sozialdiakoninnen anlässlich der Bernischen Diakoniekonferenz 2018. Wie aktuell das Thema ist, zeigten das Referat von Ueli Mäder und die angeregte Diskussion auf eindrückliche Weise.

Die Welt verändert sich und unsere Gesellschaft verändert sich mit ihr. Was bedeutet das für die Arbeit in den Kirchgemeinden? Nach einer kurzen Einführung durch Synodalrätin Claudia Hubacher ging der Soziologe Ueli Mäder das Thema ganz persönlich an. Er erzählte von Begegnungen mit Menschen, die mit gesellschaftlichen Veränderungen zu kämpfen haben, von Arbeitslosen, Asylsuchenden, Alleinerziehenden. Wie kann man ihnen helfen? Wie soll man vorgehen?

Wichtig sei, nicht einfach vom Problem auszugehen und eine schnelle Lösung zu suchen, sagte Mäder, denn übereiltes Handeln führe dazu, dass wir das Ziel verfehlen. Zuerst gelte es, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Mäder stellte ein Modell zur Problemlösung in 5 Schritten vor (siehe Kasten).

In der Folge ging es vor allem darum, wie man mit Konflikten umgeht. Laut Mäder geht in vielen Projekten viel Energie für unbewältigte Konflikte verloren. Anhand des Tuckman Phasenmodells (forming – storming – norming – performing) zeigte er auf, weshalb: wir neigen dazu, die storming-Phase zu übergehen oder abzukürzen. Weichen wir den Konflikten aber aus, so werden sie uns das ganze Projekt lang begleiten und behindern.

Gesellschaftlicher Paradigmenwechsel

Seit den 80er-Jahren überlagere ein finanzgetriebener Kapitalismus den politischen Liberalismus. Er legitimiere Ungleichheit und kolonialisiere unsere Lebenswelten. So Mäders These. Er veranschaulichte sie mit Beispielen aus dem Alltag. Es geht um Geld, immer um Geld. Alles muss rentieren. Dieses Denken sei auch in der Kirche angekommen, stellte jemand aus dem Publikum spontan fest. Auch die Kirche wolle ihre Räume gewinnbringend vermieten statt sich zu überlegen, wie man sie nutzbringend zur Verfügung stellen könne.

Wie gehen Menschen mit dieser geldorientierten Gesellschaft um? Viele, so Mäder, ziehen sich resigniert zurück und übernehmen freiwillig die Verantwortung dafür, dass sie scheitern. Sie bauen Fassaden, bagatellisieren, beschönigen. Und sie versinken schliesslich erschöpft in Depressionen. Oder sie beschuldigen den Nächsten. Wut ist laut Mäder ein guter Anstoss, um etwas zu verändern und zu handeln. Leider würden Empörung und Wut in unserer Gesellschaft aber populistisch abgeschöpft. Progressive Kraft werde so in regressiven Autoritarismus verkehrt.

Ueli Mäder

Problemlösung in 5 Schritten

  1. Orientieren. In Ruhe anschauen, was wichtig ist. Mögliche Gründe erforschen.
  2. Ziel ins Auge fassen und gewichten. Beachten, dass es verschiedene Ziele geben kann.
  3. Planen. Reserve/Platz für Änderungen und Ergänzungen mit einplanen.
  4. Umsetzen. Beharrlich, aber flexibel bleiben.
  5. Evaluieren. Sollte während des ganzen Projekts immer wieder stattfinden.

Was ist wichtig im Leben?

Es gilt, sich neue Fragen zu stellen, die weite Sicht zu behalten, aus dem Fenster zu schauen, sagte Mäder. „Wir müssen einfacher und bescheidener werden.“ Und wir sollten Widerstand leisten und aus unserer eigenen Persönlichkeit heraus handeln. Die Individualisierung der Gesellschaft sei auch eine wichtige Entwicklung. Sie ermögliche, dass wir freier denken und aus engen, festgefahrenen Formen ausbrechen können. Mäder gab sich zuversichtlich, dass sich die Gesellschaft wandeln könne, von der industriellen Moderne zur reflexiven Moderne. Massgebend dabei sei das mündig emanzipierte Individuum, das sich kooperativ aus dem Nutzen-Denken befreit und neue Wege geht. Eigenständig sein und authentisch bleiben definiere Qualität, betonte Mäder. Und genau das sei die Chance für die Kirche.

Netzwerken

Aus dem Publikum kam die Frage nach der Freiwilligenarbeit, ein Thema, das Diskussionen nach sich zog. Mäder stellte sich klar auf den Standpunkt, dass unsere Gesellschaft ohne Freiwilligenarbeit nicht funktionieren könnte. 9 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit, so Mäder, stehen 8 Milliarden bezahlter Arbeit gegenüber, und beides trägt in gleichem Masse zu unserem Wohlstand bei. Hinter freiwilliger Arbeit stehe oft eine hohe Motivation. Und etwas gerne und von Herzen zu tun, das sei eine mächtige soziale Kraft, die sozial staatliche Anstrengungen ergänze, nicht ersetze.

Laut Mäder ist der gesellschaftliche Mainstream noch immer die Ökonomisierung, aber es gibt auch ein starkes und wachsendes Bedürfnis nach sozialer Verbindlichkeit.

„Netzwerken lebt vom kulturellen Austausch“. Erfahrungen und Erlebnisse, die menschlichen Dinge im Kleinen, das seien wichtige kulturelle Ressourcen. Sie helfen, strukturelle Veränderungen zu erwirken.

Mäder gab dem Auditorium zum Schluss sein „Kleines abc des Netzwerkens“ mit:

  1. achte beim Engagement auch auf dich selber
  2. beobachte deine Möglichkeiten
  3. checke resp. streiche, was dir schadet.

Ueli Mäders vielschichtiges Plädoyer für mutiges und authentisches Handeln hinterliess ein nachdenkliches Publikum. Sein Aufruf zu Vertrauen in sich selber und in die Gewissheit, dass man als Individuum von unten herauf etwas verändern kann, ist ein starkes Votum für jede sozialdiakonische Arbeit.

Text: Susanne Thomann
Foto: Thomas Kaffka


Ueli Mäder ist Soziologe und emeritierter Professor der Universität Basel.
Publikationen (Auswahl):

  • 68 – was bleibt?, Rotpunktverlag, Zürich 2018
  • Dem Alltag auf der Spur, Edition 8, Zürich 2017
  • macht.ch, Geld und Macht in der Schweiz, Rotpunktverlag, Zürich 2015