Die Sozialhilfe ist unter Druck – Hintergründe, Fakten und Trends

Die Sozialhilfe im Kanton Bern soll um 8% gekürzt werden. Ende Mai 2019 stimmen wir darüber ab. Was dies für die Betroffenen und die Gesellschaft bedeutet, das scheint in der politischen Diskussion ausgeblendet. Rund 30 diakonisch Arbeitende haben sich am 27. November beim Lunch am Puls mit dieser Frage beschäftigt.

Felix Wolffers, Leiter des Sozialamtes der Stadt Bern und Co-Präsident der SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) legte Zahlen vor und zeigte Zusammenhänge auf. Er bedauerte, dass es keine einzige Studie gäbe, die sich mit den Auswirkungen einer ge­nerellen Kürzung der Sozialhilfe befasse. Die derzeitige politische Diskussion basiere fast ausschliesslich auf Emotionen und Ideologien, ohne Rücksicht auf Tatsachen. Laut Wolffers wälzt eine Kürzung der Sozialhilfe ein struktu­relles Problem auf Einzelpersonen ab. Sie ver­schiebt das Problem statt es zu lösen.

Menschen über 55

Wolffers Statistiken zeigten, dass Menschen ab 55, die ihre Arbeit verloren haben, die am schnellsten wachsende Gruppe von Sozialhil­febezügern ist. Menschen über 55 finden keinen Job mehr - unverschuldet. Sie werden ausgesteuert, brauchen ihr Vermögen auf und müssen danach bis zur Pensionierung Sozial­hilfe beziehen. Sie haben ein Leben lang gear­beitet, gespart und Sozialabgaben bezahlt, jetzt leben sie unter der Armutsgrenze.

Kinder und Jugendliche

Die Hälfte der Sozialbezüger sind Menschen mit schlechter Ausbildung. Mittelfristig werde hier auch die Zuwanderung aus bildungs­schwachen Ländern in der Sozialhilfe aufschla­gen, ist Wolffers überzeugt. Die Wirtschaft hat unqualifizierte Arbeiten ins Ausland ausgela­gert, oder aber sie sind derart schlecht be­zahlt, dass man auch von einem 100%-Job nicht leben kann. Hier sind oft Familien betrof­fen, und damit auch Kinder und Jugendliche. Gerade bei der jungen Generation wäre aber wichtig, sie zu fördern und zu schulen, gute Bedingungen zu schaffen, damit sie nicht auch in der Armutsspirale landen. Fast ein Drittel der von Sozialhilfe abhängigen Personen sind Kinder und Jugendliche.

Interessant zu wissen: Im Kanton Bern ist rund ein Drittel der Sozialhilfebezüger erwerbstätig, gut ein Drittel ist auf Stellensuche, darunter auch viele Jugendliche. Nichterwerbsfähige Menschen sind die kleinste Gruppe.

Leben mit 5 Franken pro Tag

Der heutige Grundbedarf der Sozialhilfe wird mit 986 Franken im Monat als Existenzmini­mum für eine Einzelperson berechnet. Dies ist schon heute gerade einmal 60% des von den Ergänzungsleistungen (EL) berechneten Mini­mums von 1607 Franken. Wolffers zeigte auf, was es bedeutet, wenn die Sozialhilfe um wei­tere 8% gekürzt wird. Eine vierköpfige Familie hat dann im besten Fall noch 5 Franken pro  Person und Tag für Nahrungsmittel und Ge­tränke zur Verfügung. Eine gesunde Ernährung ist damit unmöglich.

Die Aufgabe der Kirche war schon immer, sich für die Schwächsten einzusetzen. Das ist die explizite Bestimmung der Diakonie. Und auch wenn die Kirche nicht per se politischen Einfluss nimmt: hier ist es laut Wolffers unumgänglich, klar Stellung zu beziehen.

Referat Felix Wolffers

Text: Susanne Thomann

Der Volksvorschlag „Wirksame Sozialhilfe“

Gleichzeitig mit dem neuen Sozialhilfegesetz, das einen Abbau um 8% beinhaltet, kommt der Gegenvorschlag zur Abstimmung. Er wird vom Komitee für eine wirksame Sozialhilfe unterstützt, dem auch die Kirchen angeschlossen sind. Der Volksvorschlag für eine wirksame Sozialhilfe verlangt.

à Unterstützungsleistungen gemäss schweizweit anerkannter SKOS-Ansätze
à Weiterbildung und Qualifizierungsmassnahmen für Stellensuchende
à Einbezug der Wirtschaft bei der Arbeitsintegration
à Würdige Behandlung von über 55-jährigen Arbeitslosen. Sie sollen nach Ansätzen der Ergänzungsleistungen (EL) unterstützt werden.

Berechnete Mehrkosten gegenüber dem Ist-Zustand sind 3 Mio. pro Jahr zu erwarten. Gegenüber dem revidierten Sozialhilfegesetz sind es 10 Mio. Zum Vergleich: Der Aufwand für die Sozialhilfe beträgt 2,7 Milliarden Franken pro Jahr. Das sind 1,6 % gegenüber den restlichen Leistungen der sozialen Sicherheit von 172 Milliarden.