Sterbebegleitung - who cares?

Ein Artikel von Pascal Mösli, erschienen in ENSEMBLE Heft Nr. 30 vom Juli 2018.

Palliative Care ist die berufsübergreifende Begleitung und Behandlung von Menschen mit unheilbaren Krankheiten und beim Sterben. Palliative Care ist bekannt bei Krebserkrankung und bei alten Menschen, sie kommt aber auch bei allen übrigen lebensbegrenzenden Krankheiten zum Zug und sie wird allen Betroffenen – auch Kindern – angeboten. Dabei werden neben den kranken Menschen auch ihre An- und Zugehörigen unterstützt. In der Schweiz wird Palliative Care vor allem von Fachleuten angeboten. Freiwillige leisten je nach Region zusätzlich einen wichtigen Beitrag. Im südindischen Bundesstaat Kerala ist es gerade umgekehrt. Dort wird Palliative Care vor allem von Freiwilligen getragen. Es ist ein nachbarschaftliches Netzwerk von über 7000 Freiwilligen entstanden, die sich um die sterbenden Menschen kümmern. Die Freiwilligen verantworten die Begleitung und ziehen die Fachpersonen bei Bedarf bei. Dr. Suresh Kumar ist als Arzt involviert und er sagt dazu: «Ganzheitliche Palliative Care zielt auf Lösungen, welche die sozioökonomische, kulturell-religiöse und medizinische Dimension des Menschseins berücksichtigen. Das Übergewicht der Medizin kann nur dadurch ausgeglichen werden, dass die Bürgerinnen und Bürger selber Mitverantwortung übernehmen.» Um diese Mitverantwortung aller Menschen für das Sterben in der Gemeinschaft geht es seit ihren Anfängen auch den Kirchen.

Das Netz

Für eine funktionierende Palliative Care in Kirchgemeinden müssen verschiedene Faktoren zusammenspielen:

  • In den Bezirken und Kirchgemeinden kümmert sich jemand verbindlich um das Dossier Palliative Care
  • Seelsorgende vernetzen sich mit Fachleuten der Spitex und mit Hausärzten, um die Zusammenarbeit zu vertiefen
  • Sozialdiakoninnen und -diakone klären ihr Aufgabenfeld, damit sie ihren Beitrag leisten können
  • kirchliche Mitarbeitende setzen sich an die regionalen Tische der palliativen Zusammenarbeit, um die Angebote der Kirchen einzubringen und von den Anliegen der anderen zu hören
  • Freiwillige besuchen und begleiten Kranke und Sterbende und entlasten deren Angehörige
  • alle Aktivitäten finden in enger landeskirchlich-ökumenischer Zusammenarbeit statt.

Kirchgemeinde als sorgende Gemeinschaft

Während eines Besuches bei einem Pfarrer in einer kleinen Berner Landgemeinde erhält dieser einen Anruf. Eine alte Frau möchte ihn treffen, damit er für sie beten kann. Sie ist mit ihrem schwerkranken Mann kürzlich weggezogen, an den Ort, wo ihre Töchter wohnen, damit diese sie besser betreuen können. Ihr Haus haben sie noch behalten. Es ist für sie ganz schwierig, dass sie wegziehen mussten. Der Pfarrer hat sie am neuen Ort besucht, wie auch andere Mitglieder der Kirchgemeinde. Diesen Bezug weiterhin zu spüren ist ihr ganz wichtig – menschlich und geistlich. Eine kleine Landgemeinde – ein grosser Beitrag für die Frau und ihren schwerkranken Mann. Das ist alltägliche, kirchliche Palliative Care, worin das Netz der Kirchgemeinde trägt.

Die Sorge um das Sterben und die gegenseitige Achtsamkeit gehört von Anfang an zum Kennzeichen der christlichen Gemeinde. Das ist in Apostelgeschichte 2 nachzulesen. Darum ist die Stärkung von fürsorglichen Beziehungen eine zentrale Aufgabe der Kirchgemeinde, gerade auch für kranke und sterbende Menschen.

Kirchgemeinde-Mix Palliative Care

Es sei nochmals betont: Palliative Care ist für die Kirchen nichts Neues! Neu aber ist die Notwendigkeit, das kirchliche Angebot Menschen bekannt zu machen, die mit der Kirche nicht vertraut sind. Neu ist die Notwendigkeit, sich aktiv mit den Partnern der Palliative Care zu vernetzen und verbindlich zusammenzuarbeiten. Und neu ist auch die Herausforderung, dass sich die Kirchgemeinde zuständig fühlt für das Sterben in ihrer Mitte, dass sie sich darum kümmert, wie Menschen in ihrer Mitte sterben möchten.

Damit die Kirchgemeinden ein Netz für Sterbende zuhause sein können, braucht es ein Zusammenspiel von Freiwilligen, Ehrenamtlichen und kirchlichen Mitarbeitenden untereinander und mit allen Partnern im palliativen Netzwerk (s. Kasten).

Um die Kirchgemeinden bei ihren Bemühungen zu unterstützen, haben die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn vor vier Jahren eine Koordinationsstelle eingerichtet. Diese Stelle ist auch dafür zuständig, den Dialog und die Zusammenarbeit auf kantonaler und regionaler Ebene mit den Netzwerkpartnern zu vertiefen.

Was alles in Kirchgemeinden läuft

In vielen Kirchgemeinden gibt es spannende und innovative Projekte, mit denen das kirchliche Netz Palliative Care derzeit kreativ weitergeknüpft wird. Einige dieser Projekte seien exemplarisch vorgestellt.

Vor sechs Jahren gründete in Bettlach das Pfarrehepaar Brigitte und Roland Stach zusammen mit einem Arzt, der Leiterin des dortigen Altersheimes und der Spitexleiterin einen Verein zur Begleitung sterbender Menschen. Sie entwickelten eine kleine Fortbildung für Freiwillige und machten ihr Angebot in der Region bekannt. Sechs Freiwillige stehen heute zur Verfügung und können dank dem breiten Beziehungsnetz des Vereinsvorstands dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden.

Pflegende Angehörige sind doppelt belastet: Sie sind selbst betroffen, und zugleich brauchen sie alle Kraft, um ihre kranken und sterbenden Angehörigen zu pflegen. Hilfe anzunehmen ist in der Situation anspruchsvoll – man will anderen nicht zur Last fallen und zugleich muss man dafür das eigene Haus weit öffnen. Dass die Unterstützung Vertrauen braucht, weiss man in Vechigen. Dort gibt es ein Projekt, bei dem sich in einem Kurs pflegende Angehörige und kirchliche Freiwillige kennenlernen und zugleich bei ihren pflegerischen und geistlichen Anliegen unterstützt werden.

Die Zusammenarbeit mit der Spitex ist für die Seelsorge in allen Regionen zentral. In Bern-Bümpliz ist der Sitz der SEOP, der spitalexternen, onkologischen Spitex für die Region Bern. Die Mitarbeitenden der SEOP kommen immer dann zum Zug, wenn besonders komplexe palliative Situationen zuhause zu betreuen sind. In einigen Workshops haben sich die Mitarbeitenden um die spirituelle Dimension ihrer Arbeit gekümmert und ein Konzept dazu erarbeitet. Wichtiger Teil des Konzepts ist die Zusammenarbeit mit der örtlichen Seelsorge. Dabei tauchte auch der Wunsch auf, eine Seelsorgerin im Team zu haben: Barbara Studer, Pfarrerin in Bümpliz, ist seit kurzem die SEOP-Seelsorgerin.

Das Bedürfnis, über das Sterben offen sprechen zu können, ist gross. Eine jüngst publizierte Untersuchung des Bundesamts für Gesundheit zeigte auf, dass 80 Prozent der Befragten über ihr Sterben nachdenken. Wer nachdenkt, will sich oft auch austauschen. Das zeigen die grösseren Dialogveranstaltungen in Kirchgemeinden, die Gruppen für Trauernde und das besondere Angebot des «Café mortel»: Menschen, die sich teilweise kaum kennen, erzählen von ihren persönlichen Sehnsüchten und Ängsten, und sie bleiben dabei nicht allein.

Viele Menschen möchten zuhause sterben. Damit sie es können, braucht es die Unterstützung von vielen. Es braucht Menschen, die Zeit haben, es braucht Menschen mit professionellem Knowhow und Menschen mit geistlicher Erfahrung – und in allem braucht es Menschen mit einem weiten und offenen Herzen in einer Gemeinschaft, die trägt.