Können Kinder depressiv sein?

Der Psychiater Alain Di Gallo sprach im Rahmen von «Lunch am Puls» über Depressionen im Kindes- und Jugendalter.

Alain di Gallo, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, leitete sein Referat, das er im Rahmen der Veranstaltung «Lunch am Puls» hielt, mit einem Medienspiegel ein. Es sind teils dramatische Schlagzeilen, die am Ende der Corona-Zeit zum Thema depressive Kinder und Jugendliche publiziert wurden. «Mama, ich möchte einschlafen und nicht mehr aufwachen», wird etwa ein Kind zitiert. Dazu kommen in den Medien gerne verwendete Formulierungen wie «nimmt drastisch zu». Di Gallo verweist darauf, dass solche Aussagen mit Vorsicht zu geniessen seien. Was heisst eine Zunahme wirklich? Wird mehr Hilfe in Anspruch genommen, oder gibt es tatsächlich mehr Erkrankungen? Auch die Instrumente, die man für Untersuchungen und die Klassifikationen, die man für die Diagnosestellung benutze, änderten sich und hätten Einfluss auf die Resultate. Eines ist indes gewiss: Depressionen sind bei Erwachsenen häufiger als bei Jugendlichen und bei Jugendlichen häufiger als bei Kindern. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.

«Kinder zeigen oft andere Symptome als Erwachsene», so di Gallo. Eine Depression bei Kindern zu diagnostizieren sei nicht immer einfach. Manchmal zeigten sie aggressives Verhalten oder wollten nicht mehr lernen. Und bei Jugendlichen müsse man sich fragen, was normale adoleszentäre «Nullbock-Stimmung» sei und wann Depression anfange. Di Gallo illustrierte das Problem anhand eines Falles aus seiner Praxis. Der 16-jährige André empfindet seit mehr als zwei Wochen ein Gefühl von Sinnlosigkeit, ist in ungewohntem Ausmass in bedrückter Stimmung und realisiert einen Verlust von Interesse und Freude. Um so einen Zustand als Depression zu diagnostizieren, spiele der Zeitfaktor wie hier «während mindestens zwei Wochen», eine wichtige Rolle, so di Gallo. Eltern würden meistens spätestens dann hellhörig, wenn es in der Schule nicht mehr ginge.

Gezeichnete Wut

Und Kinder? Können Kinder überhaupt depressiv sein? Die Gallo verwies erneut auf ein Fallbeispiel. Jan, 9 Jahre alt, ist zuhause wild und aggressiv, in der Schule schüchtern und ängstlich. Ausserdem plagen ihn Bauchschmerzen und Einschlafstörungen. Was ist los? Die Gallo liess den Buben während der Therapie Köpfe zeichnen, mit denen das Kind seinen Gefühlen Ausdruck gab. Die Wut versinnbildlichte Jan mit einem Gesicht, das die Zähne zusammenbeisst, mit Haaren, die vom Kopf abstehen. Neun Monate später verwies die Zeichnung auf einen kognitiven Schub, Jan zeichnete erstmals einen Körper zum Kopf dazu und illustrierte einen ernsten Buben. Nach einer längeren Pause meldeten sich die Eltern erneut, Jan ginge es schlecht. Beim Zeichnen in der Therapie gelang es Jan nicht mehr, sich selbst darzustellen. Er zeichnete schliesslich einen schwarzen Tunnel und eine Spirale ohne Ende. Der Bub, der mittlerweile 12 Jahre alt war, musste in die Klinik.

«Zeichnungen sind ein Abbild, das als Ausdruck des Innenlebens gelesen werden kann, allerdings nur im Rahmen einer Beziehung und in Kenntnis der Lebensumstände des Kindes», so di Gallo. Für depressive Störungen gäbe es selten nur einen Grund. Dahinterstecken könne eine genetische Prädisposition, frühkindliche Trauma-Erfahrungen oder aktuelle Schwierigkeiten. Zurück zum Fall André. André weiss nicht, was er nach dem Schulabschluss machen will. Er hat Stress und kifft jeden Tag im Versuch, sich selbst zu heilen. Sein Vater hat sich früh entzogen, die Mutter ist durch die Trennung selbst in einer psychischen Krise, was möglicherweise auf eine genetische Prädisposition zu Depressionen verweist.

Innere Bilder

 «Psychiatrische Erkrankungen sind körperliche Erkrankungen.» Einen Bluttest oder Biomarker um eine Erkrankung festzumachen, gäbe es allerdings bisher nicht. Die Gallo spricht von einem komplexen Zusammenspiel. So könnten sich genetische Risikofaktoren und Beziehungserfahrungen überlagern. Di Gallo präsentierte anhand eines Filmes das Experiment «The still Face». Bei diesem Experiment hat eine Mutter den Auftrag, nicht auf die Beziehungsangebote ihres kleinen Kindes zu reagieren. Innerhalb von 1-2 Minuten fängt das Kind verzweifelt an zu weinen. Es kann nicht mit der fehlenden Interaktion umgehen. Das Experiment lässt ahnen, was das Kind einer schwerdepressiven Mutter erlebt, wenn beide in dieser Situation keine Unterstützung erhalten.

Was hätte geholfen?

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind es am häufigsten junge Frauen, die an Depressionen leiden. Tatsächlich haben die Hospitalisierungen aufgrund von Depressivität und Suizidalität seit der Corona-Pandemie besonders in dieser Altersgruppe zugenommen. «Zum Glück gibt es bisher keine Hinweise, dass auch die Suizide zugenommen haben», so di Gallo. Das liege vielleicht an einer erhöhten Sensibilität, Suizidalität werde sehr ernst genommen, das Thema sei bekannter, junge Menschen meldeten sich früher. Erneut verweist di Gallo auf ein Fallbeispiel einer jungen Frau, die sich mit Tabletten das Leben nehmen wollte und überlebt hat. Zwei Jahre später fragte di Gallo nach Gründen. Im aufgezeichneten Gespräch sagt die Frau, sie habe die Hoffnung verloren, nachdem sie aus dem Spital entlassen wurde, obwohl es ihr nicht besser gegangen sei. Sie habe auf die Frage gewartet, ob sie immer noch Suizidgedanken habe. «Hätte man mich direkt gefragt, hätte ich die Wahrheit gesagt», fasst sie zusammen.

«Weichen Sie nie aus, wenn jemand Suizidgedanken äussert, fragen Sie nach, das gibt dem Gegenüber die Möglichkeit sich mittzuteilen», rät di Gallo. «Das heisst nicht, dass Sie die Verantwortung dafür tragen sollen. Sie können aber dazu beitragen, dass die betroffene Person Hilfe erhalten kann.» Was hat der Patientin schliesslich geholfen? Die Erkenntnis, dass sie an einer Krankheit leidet und dass auch andere dieselben Symptome kennen, half der jungen Frau. Im Rückblick kann sie ihre Gedanken sterben zu wollen immer noch nachvollziehen, auch wenn sie sich heute in einer ganz anderen Lage befindet. «Ich weiss jetzt, dass es einen Heilungsweg gibt», sagt sie. Das Erlebte bleibe Teil ihrer Geschichte, aber sie sei sehr froh, die Krankheit überstanden zu haben und zu leben.

Einfluss der Hormone

Im Rahmen der Fragerunde am Ende von di Gallos Referat, wollte jemand wissen, ob man bei Frauen den Einfluss von PMS oder PDMS – also den Impact der Hormone auf die Psyche – berücksichtige. «Immer noch zu wenig», so di Gallos Antwort. Dabei gäbe es zyklusabhängige Stimmungsschwankungen und die Pille könne ein Risiko für Depressionen bedeuten. Welche Rolle die Religion spiele, wollte jemand anderes wissen. «Wenn man ein Wertesystem in sich trägt, das einem Sicherheit vermittelt, kann das als Schutz funktionieren», so di Gallo. Religion könne aber auch Druck verursachen bis hin zu einem religiösen Wahn, so geschehen bei einem Jugendlichen, der mehrmals am Tag Abbitte leisten musste. «Wie sprechen Sie mit schwer suizidalen Jugendlichen?», lautete eine letzte Frage. «Ernst nehmen, nicht bagatellisieren, nicht moralisieren und nicht dramatisieren», so di Gallo. Und wichtig: Das Gespräch muss an einem sicheren Ort stattfinden.

 

Text: Helen Lagger
Bild: Miriam Deuble