Es ist immer ein Dilemma

Der Arzt Matthias Luther sprach im Rahmen von «Lunch am Puls» über den «Ethik-Kompass», den er an seiner Klinik mitentwickelt hat. Und über die Spannungsfelder, die sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwangläufig auftun.

Ein Gastredner mit profunder Erfahrung - Matthias Luther ist ärztlicher Leiter des Zentrums für Liaison und aufsuchende Hilfe für Kinder und Jugendliche in Basel. Im Rahmen der Veranstaltung «Lunch am Puls» sprach er über «Ethische Fragen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie» und stellte den «Ethik-Kompass» der UPKKJ (Universitäre Psychiatrische Klinik für Kinder und Jugendliche) Basel vor. Luther arbeitet unter anderem mit Asylzentren, Frauenhäusern und Kinderheimen zusammen. Wie gestaltet sich ein sinnvolles Miteinander? Luther ging zuerst auf die christliche Ethik ein, in der das Doppelgebot der Liebe zu Gott und zu den Menschen gelte oder der barmherzige Samariter als Vorbild diene. Das Wort Ethik stamme allerdings aus der Antike, sei durch den Philosophen Cicero geprägt worden. «Ethik und Moral gehören hierbei eng zusammen», so Luther. Die sich darauf stützende Medizinethik habe vier Hauptprinzipien: Fürsorge, Autonomie, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit. Bei der Fürsorge und Autonomie geriete man als Arzt rasch in ein Spannungsfeld. Bei Jugendlichen etwa müsse man sich einen Auftrag erst einholen. Möchte jemand überhaupt, dass es ihm besser geht?

Luther erzählte aus seiner eigenen Erfahrung. Wie geht man mit einer traumatisierten Flüchtlingsfamilie um, die ausgeschafft werden soll? Oft scheitere man auch an der Finanzierung. So gebe es etwa im Bundesasylzentrum ein ökumenisches Zimmer für Seelsorge, das rege genützt würde, jedoch nur zweimal pro Woche geöffnet habe. «Die Finanzierung fehlt.» Ein wichtiges Spannungsfeld sei auch jenes zwischen den Rechten von Kindern und Erwachsenen. Eltern, die sich in einem Rosenkrieg befänden, würden oft auf ihre Rechte pochen. «Es wird am Kind gezogen.» Die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden, den KESB-Stellen, verlaufe dabei sehr unterschiedlich. Woran orientieren wir uns? Diese Frage habe letztlich zu dem Wunsch geführt, ein Ethik-Leitbild zu erarbeiten. Dabei gebe es nicht die eine Antwort, vielmehr ginge es um eine Grundhaltung. Luther stellte eine Projektgruppe, bestehend aus Fachleuten aus der Medizin, der Sozialpädagogie, der Psychologie und der Philosophie zusammen. Aus dem Publikum kam die Frage, weshalb da die Kirche nicht mit eingebunden sei. «Es wäre spannend, die Kirche in ethischen Fragen reinzunehmen», meinte eine Zuhörerin. Luther meinte, es gebe in der Klinik zwar ein ökumenisches Zentrum, doch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei die Kirche nicht präsent. 

Dem Projekt des Ethik-Kompasses ging eine Analyse voraus. Von 142 Menschen, die an der UPKKJ arbeiten, gingen 76 Rückmeldungen aus allen Berufsgruppen ein. Die meisten gaben an, dass ethische Fragen regelmässig wahrgenommen würden. Dabei würden ethische Probleme normalerweise im Behandlungsteam besprochen, nur 8 Prozent gaben an, sich bei Problemen an die Abteilung Klinische Ethik zu wenden. Der Fragbogen suchte mithilfe von zwei offenen Fragen nach Spannungszuständen und Dilemmata. Ein solches Spannungsfeld tut sich etwa in der Kommunikation auf. Zuviel oder zu wenig? «Es ist immer ein Dilemma», sagte Luther im Hinblick auf das ethisch erwünschte Verhalten und dem ethisch unerwünschten Verhalten. Was ist die richtige Behandlungsdauer, wenn diese von finanziellen Gesichtspunkten abhängt? Ist der Aufnahmedruck hoch, wäre das ethisch Richtige, möglichst viele aufzunehmen, so Luther. «Das Risiko? Mitarbeitende können unter dem Druck ausbrennen oder sich unprofessionell verhalten.» Es ginge darum, die Balance zu halten und sich die Frage zu stellen: Sorgt man für sich oder für den Auftrag? 

Eine wichtige Orientierungshilfe für ethisches Verhalten stellt auch die UN-Kinderrechtskonvention dar, die von der Schweiz 1997 ratifiziert wurde. Sie formuliert weltweit Grundwerte und zwar über alle sozialen, kulturellen, ethnischen oder religiösen Unterschiede hinweg. Sie sei mehr als eine Wunschvorstellung, nämlich eine juristische Grundlage, so Luther. Diese Ideale mit den erwähnten Spannungszuständen zusammenzubringen, sei die Grundlage für den hauseigenen Kompass gewesen. Luther benutzte mehrfach das Wort «Haltung» und verwies auf die Wichtigkeit von Wir-Botschaften. Es brauche zuerst ein Wir-Verständnis, bevor in einem zweiten Schritt, die Patientinnen und Patienten mit einbezogen werden könnten. Im Rahmen eines Sommerprojektes erarbeite die Gruppe auch eine Version, die für Kleinkinder kompatibel ist. Wichtig war es den Beteiligten auch, den Kompass in den Klinikalltag zu integrieren. «Alle Mitarbeitenden bekommen den Kompass ausgehändigt», so Luther. Er solle ein fester Bestandteil des Behandlungsablaufes werden. Gebe es Widersprüche, sei ein Gespräch vorgesehen, komme es zu keiner Lösung, könne die Kinderschutzgruppe oder eine spezielle Sitzung mit der Klinischen Ethik einberufen werden. 

Luther öffnete schliesslich die Diskussion und wollte von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern wissen, welche Spannungszustände sie in ihrem Alltag erleben. Eine Sozialarbeiterin verwies darauf, dass in den Kirchen viele Laien mitarbeiteten. «Es sind Engagierte, die nicht zwangsläufig die ethischen Grundlagen präsent haben.» Luther ordnete ein und meinte, dass dies zu Überengagement oder gar Übergriffigkeit führen könne, wenn Helfende über das Ziel hinausschiessen würden oder das grosse Ganze nicht im Blick hätten. Allgemein wurde festgestellt, dass es kaum gemeinsame Wertepapiere in der Kirche gebe, während dies in den Berufsverbänden eher der Fall sei. In der Kirche gebe es viele Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer. «Gruppen werden meist ad hoc gebildet», so eine Zuhörerin. Luther verwies auf den Erfolg von systemischen Ansätzen, wobei etwa bei einem Problem rund um ein Kind, Eltern, Freunde und die Schule mit einbezogen würden. «Es ist wichtig, die Leute zusammenzubringen.» Aus seiner eigenen Erfahrung heraus lohne es sich, eine gemeinsame Werteorientierung zu haben. «Es tut einem selber gut, aus dem Einzelkämpfermodus herauszukommen.» Dabei ginge es nicht darum, klare Antworten zu finden, sondern einen Weg aufzuzeigen, wie man mit einer gemeinsam formulierten Haltung Lösungen finden könne. 

Text: Helen Lagger
Bild: Matthias Hunziker