Psychische Erkrankungen betreffen die ganze Familie

Ist ein Familienmitglied psychisch belastet, so trägt das ganze Familiensystem daran. Besonders betroffen sind die Kinder. Dr. Thomas Ihde, Chefarzt der Psychiatrie Spitäler fmi AG, gab anlässlich Lunch am Puls Einblick in Fakten und Hilfsangebote.

Wie immer bei Lunch am Puls, waren alle verfügbaren Plätze – diesmal zusätzlich reduziert aufgrund der geltenden Schutzmassnahmen – ausgebucht. Das Thema ist gegenwärtig im Alltag diakonisch arbeitender Menschen: Kranke Elternteile, die ihre Aufgabe in der Familie nicht oder nur unvollständig wahrnehmen können, die spezielle Aufmerksamkeit brauchen, oft auch Pflege.  Dabei spiele es grundsätzlich keine Rolle, ob die Erkrankung körperlicher oder psychischer Natur sei, sagte der Referent Thomas Ihde. Die Familie sei immer als Ganzes betroffen. Während körperliche Krankheiten von der Gesellschaft aber akzeptiert sind und das Umfeld entsprechend Unterstützung bietet, weicht man psychisch kranken Mitmenschen und deren Familien aus. Das Familiensystem trägt die Last allein, isoliert sich. Für die Kinder kann das fatal sein.

Allerdings sei der Umgang mit einem kranken Elternteil nicht immer nur ein Nachteil, betonte Ihde. Er fördere auch Fähigkeiten, könne kompensiert werden. Nicht alle betroffenen Kinder nehmen Schaden.

Abhängig von Diagnose und Alter

Ob und wie stark ein Kind von der psychischen Erkrankung eines Elternteils betroffen ist, hängt laut Ihde von der Diagnose und vom Alter des Kindes ab. So sind in unserer Leistungsgesellschaft stress- und erschöpfungsbedingte Krankheiten eher akzeptiert. Bei Diagnosen wie Schizophrenie, Bipolaren oder Angststörungen sieht es anders aus. Sie werden noch immer stigmatisiert.

Am schlimmsten ist die gesellschaftliche Stigmatisierung laut Ihde bei betagten Menschen. Hier geht man davon aus, dass der Tod des Partners, der Verlust des Zuhauses, die Depression einfach zum Altwerden dazugehören. Die Erkrankung wird ignoriert.

Die ersten zwei Lebensjahre

Eine Notsituation für Kind und Eltern sind postnatale Depressionen. Hier ist das Kind direkt und in schutzlosem Alter betroffen. Man unterschätze die ersten 48 Stunden nach der Geburt, sagte Ihde. In dieser Zeit forme sich bereits das Bindungsverhalten des Kindes. Und man wisse heute, dass Kinder, die ein unsicheres Bindungsverhalten erfahren, später ebenfalls zu Depression neigen.

Ihde hat in Interlaken zusammen mit Hebammen ein Projekt gestartet, das sich um diese essenzielle erste Bindung in den ersten Tagen und Wochen des Lebens kümmert. In der Regel findet sie zwischen Kind und Mutter und/oder Vater statt. Oft seien junge Eltern überfordert und ängstlich. Es sei wichtig, sie zu unterstützen, dafür zu sorgen, dass sie zu genügend Schlaf kommen. Grosseltern, Nachbarn, Freunde – je breiter das Unterstützungsnetz, desto besser.

Schwierige Glaubenssätze

Im Alter zwischen 4 und 9 Jahren lernt ein Kind Verhaltensweisen. Es beobachtet, wie andere reagieren, interpretiert es und passt sein Verhalten an. Bei einem psychisch kranken Elternteil läuft das Kind Gefahr, Glaubenssätze auszubilden, die nicht einem Normverhalten entsprechen. Oft glauben Kinder in diesem Alter, dass sie schuld sind, wenn es der Mutter/dem Vater nicht gut geht. Dazu kommt, dass die Kinder meist isoliert sind. Die Eltern laden keine Gäste ein, das Kind bringt keine Schulkollegen nach Hause.

Deshalb ist die wichtigste Hilfe hier, mit den Kindern zu reden. So früh als möglich. Das Kind soll den kranken Elternteil richtig einordnen und dessen Reaktionen verstehen können. Und es braucht andere Beziehungsangebote. Hier sei oft ein ausgesprochen proaktives Vorgehen nötig, betonte Ihde. Es sei zum Beispiel hilfreich, wenn die Bezugspersonen des Kindes informiert seien, etwa der Lehrer, Nachbarn, Schulfreunde und deren Eltern. Gut auch, wenn das Kind die Möglichkeit hat, sich vom Familienalltag zu erholen. Ferien beim Götti zum Beispiel, oder Mitmachen in der Pfadi.

Young Carers

Teenager trifft ein psychisch kranker Elternteil am meisten. In einer britischen Untersuchung habe man festgestellt, dass die Schulleistungen um eine Note sinken, wenn ein Elternteil erkrankt, sagte Ihde. Manche Jugendliche ziehen sich zurück. Nicht selten übernehmen sie Verantwortung, sorgen für den kranken Elternteil. Ihr Leben dreht sich um ihn. Sie laden keine Freunde nach Hause ein, verlieren den Kontakt zu Gleichaltrigen. Sie tragen die Last allein, niemand ausserhalb der Familie weiss davon. Young Carers sind Jugendliche, die sich um ihre Eltern kümmern. Mittlerweile reden sie darüber im Internet und sind Gegenstand der Forschung.

Andere Teenager rebellieren, meiden das Zuhause, sind viel auf der Strasse. Hier finden sie eine (nicht ungefährliche) Gemeinschaft mit anderen Alleingelassenen.

Am meisten hilft jugendlichen Menschen der Austausch mit anderen, die dasselbe Problem haben, sagte Ihde. Der Versuch, in Interlaken einen regelmässigen Treff einzurichten, ist bisher allerdings gescheitert. Noch immer liegt ein Tabu über dem Thema.

Zu enger Fokus

Auch erwachsene Partner von psychisch kranken Menschen leiden darunter, dass sie alleingelassen sind. Es gibt kaum Hilfsangebote für sie. Der Fokus der Hilfe liegt vollumfänglich beim Erkrankten. Das liegt auch daran, so Ihde, dass in der heutigen Psychologie und Psychiatrie der Fokus auf der Einzelperson liegt. Die Familie wird in der Regel nicht oder nur marginal in die Therapie miteinbezogen. Und wenn, dann sind die Kinder nicht dabei. Hier müsse ein Umdenken stattfinden.

Erste Schritte sind gemacht. Das System nennt sich Open Dialogue und stammt aus Lappland. Bei einer psychischen Erkrankung geht ein Team aus zwei Leuten zur Familie nach Hause. Hier finden die Therapiegespräche am runden Tisch statt und beziehen alle Betroffenen mit ein. Der Spitalverbund Frutigen-Meiringen-Interlaken bietet eine solche Hilfeleistung bereits an.

Dr. Thomas Ihde ist Chefarzt der Psychiatrie Spitäler Frutigen, Meiringen, Interlaken (fmi) AG und Präsident der Stiftung Pro Mente Sana

Text: Susanne Thomann
Foto: Miriam Deuble

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Weitere Informationen

Das Referat von Dr. Thomas Ihde als PDF

Das Buch zum Thema:

Dr. Thomas Ihde-Scholl, „Ganz normal anders - Alles über Psychische Gesundheit, Störungsbilder, Perspektiven und Hilfsangebote“, Edition Beobachter 2013
Buch anschauen im Beobachter Buchshop 
 

Informationen zur Methode "Open Dialogue":

Die Geschichte von Open Dialogue auf Wikipedia

Open Dialogue bei der fmi AG   

 

Young Carers:

Forschungsprojekt der Careum Hochschule Gesundheit zu pflegenden Jugendlichen

 

Die nächste Veranstaltung von Lunch am Puls findet statt am Dienstag, 19. Januar 2021, 12:00 bis 13:15 Uhr. Thema: Christliche Familienbilder - vom Ideal zu neuem Verständnis. Referentin: Sabine Scheuter, Theologin und Beauftragte für Personalentwicklung und Diversity der reformeireten Kirche Zürich.

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