Die Familie – von der Projektion zur Realität

Welches Bild von Familie vermittelt die Bibel? Was sind christliche Werte in Zusammenhang mit Ehe und Familie? Bei der ersten Online-Veranstaltung von Lunch am Puls führte die Referentin Sabine Scheuter die Zuhörenden durch die Vielfalt historischer Familienbilder und deren christliche Hintergründe.

Sie sei nicht neutral in dieser Sache, warnte Sabine Scheuter mit Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung über die Ehe für alle. Als Theologin und Beauftragte für Personalentwicklung und Diversity der reformierten Landeskirche Zürich, vor allem aber im Ringen um eine adäquate Haltung gegenüber Ehe für alle, habe sie sich intensiv mit christlichen Ansprüchen an Ehe und Familie beschäftigt.

Weihnacht und die Vorzeige-Familie

Maria und Josef und das Kind. Seit zwei Jahrtausenden der millionenfach bildlich dargestellte Prototyp der heilen Familienidylle. Scheuter zeigte eine ganze Reihe von Bildern, die sich bei näherem Betrachten dann doch unterschieden in der Rolle, die Maria, die Josef zugewiesen wird. Das Idealbild der Familie – der Heiligen Familie – wurde über die Jahrhunderte immer wieder in die eigene Kultur, den eigenen Alltag, die eigenen Werte hineinkopiert. Die Realität sah anders aus.
Historisch gesehen müsse man davon ausgehen, so Scheuter, dass die reale Maria zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sei, denn die Mädchen wurden damals in diesem Alter verlobt. Josef ist nicht der Vater des Kindes, das Maria erwartet. Es sei auch durchaus möglich, dass Josef bereits Kinder aus einer früheren Ehe gehabt habe. Auch damals war die Drei-Personen-Familie nicht die übliche Familienform. Familien waren umfangreich.

Eva und Adam

Scheuter begann im Alten Testament mit der Suche nach Familie. Eva und Adam. In der 7-Tage-Schöpfungsgeschichte schuf Gott den Menschen männlich und weiblich. Nicht als Frau und Mann. Vielleicht als ein Geschöpf, das beide Teile in sich vereint? In der zweiten Schöpfungsgeschichte erschuf er Adam und gesellte ihm Eva hinzu. Hier geht es um Mann und Frau, die sich egalitär gegenüberstehen. Erst als Strafe für den Sündenfall wird erwähnt, dass die Frau unter Schmerzen gebären, sie den Mann brauchen und dieser ihr Herr sein werde. Aber noch im 1. Buch Mose steht auch, dass der Mann Vater und Mutter verlassen werde um seinem Weibe anzuhangen und mit ihm eins zu werden (1. Mos 2,24). Und der in Zusammenhang mit Ehe oft zitierte Satz: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch“, sagt Ruth zu ihrer Schwiegermutter Noomi (Ruth 1,16). Konkrete Aussagen über Ehe gibt es laut Scheuter in den Schöpfungsgeschichten keine, und über Geschlechterrollen erst in den Strafsprüchen.

Die zehn Gebote

Die Geschichten im Alten Testament bilden das damalige Familiensystem ab. Abraham, Isaac, Jakob. Die zehn Gebote sind Abbild davon. Hier ist klar geregelt, dass Frau und Kinder Besitz des Mannes sind. Laut Scheuter waren Ehen damals in der Regel nicht monogam. Es gab Hauptfrauen und Nebenfrauen und auch die Mägde und Sklavinnen gebaren die Kinder des Hausherrn. Das Wichtigste waren (viele und gehorsame) Kinder, denn sie sicherten die Altersversorgung. Also nicht unbedingt ein Vorbild für unsere heutigen Familien.

Jesus ist familienkritisch

Das Neue Testament beginnt mit dem Stammbaum von Jesus (Mat 1, 1-15). Scheuter zeigte auf, dass hier auch mit der Schwiegertochter (Tamar), der Gastwirtin (Rachab), einer Ausländerin (Rut) und der Frau des Nachbarn (Urija) Kinder gezeugt wurden.  Auch kein Vorbild also. Jesus selber erwähnt Familie denn auch kaum, und wenn, dann meist kritisch. Er lebte zölibatär und propagierte, die genetische Familie zu verlassen, denn Gott sei der Vater von allen. (Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein (Luk 14,26)). Auch Paulus ist immer unterwegs und hat nichts übrig für Familie. Zölibatäres und asketisches Leben gelten mehr, gelten als näher bei Gott.

Im 2. Jahrhundert hat man, so Scheuter, kirchlich hierarchische Ordnung zu installieren begonnen. Das Bischofsamt, patriarchale Familiensysteme, die sich an den Haustafeln in den Paulusbriefen (Eph 5,22-6,5 und Kol 3,18-4,1) orientierten.

Ehe als Sakrament

Im 12. Jahrhundert nahm die katholische Kirche die Ehe in die Sakramente auf, das Konzil von Trient (1547) machte dies gesellschaftlich verbindlich. Ehe war jetzt monogam, nicht mehr auflösbar und diente allein der Erzeugung von Nachwuchs. Gleichzeitig galt Familie weiterhin als minderwertig gegenüber einem zölibatären Leben.  Dieses bot durchaus Vorteile. Einsiedelei und Ordensleben ermöglichten es – vor allem auch Frauen – aus engen Familienstrukturen auszubrechen und ein gottgefälliges Leben ausserhalb des Reproduktionsdrucks zu führen.

Erst die Reformation beendete die zölibatäre Lebensform, löste die Orden auf. Die Ehe wurde weltlich, eine Gemeinschaft zwischen Menschen. Familie wurde aufgewertet und zum christlichen (und bürgerlichen) Ideal. Scheuter zeigte die Anleitungen des Reformators Heinrich Bullinger „Der christlich Eestand“ (1540), wie Familie damals definiert war. Die Frau kocht, putzt und zieht die Kinder gross. Sie geht nur hinaus, wenn sie unbedingt muss. „Wie eine Schildkröte, die ihren Kopf nur kurz aus ihrem Panzer hervorstreckt, wenn sie sich bewegt.“ Dem Mann wird immerhin geraten, ein liebvoller und freundlicher Ehemann zu sein.

Woran orientieren?

Alle Familiensysteme sind zeit- und kulturgebunden, sagte Scheuter. Was also macht eine heutige christliche Familie aus? Oder anders gefragt: gib es christlich begründete Grenzen der heutigen Diversität? Die Referentin schloss zwei Dinge aus, nämlich inzestuöse und pädophile Verbindungen. Was eine christliche Ehe in ihren Augen ausmache: Sie ist verlässlich, belastbar und langfristig, denn es geht um das Wohl der Kinder.

Kinder brauchen für ihre Entwicklung Sicherheit und eine liebevolle Umgebung. Welches Geschlecht die Eltern haben, ist für Scheuter nebensächlich. Es sei längst erwiesen, dass Kinder nicht zwingend Mutter und Vater brauchen. Sie brauchen einfach ein sorgendes Zuhause. Ehe für alle also: ja.

Reproduktion

Eine stabile Paarbeziehung bietet laut Scheuter grundsätzlich Raum für Kinder, egal ob das Paar aus Frau und Mann, aus Frau und Frau oder aus Mann und Mann besteht. Aber: ein Kind habe auch das Recht, seine leiblichen Eltern zu kennen. Bei einer rechtmässigen Adoption ist das kein Problem. Bei einer Reproduktion mit einem anonymen Samenspender hingegen schon. In der Schweiz ist es gemäss Scheuter so, dass der Samenspender bekannt ist und einverstanden sein muss, sollte das Kind ihn kennenlernen wollen. Problematisch seien aber Samenspenden im Ausland, bei denen es ausgeschlossen sei, den Spender je kennen zu lernen.

Auch einer Leihmutterschaft steht Scheuter eher kritisch gegenüber. Hier müsse sichergestellt sein, dass die Frau nicht ausgebeutet werde.

Konsequenzen für die sozialdiakonische Arbeit

„Bleiben Sie offen und denken Sie immer mit“, appellierte die Referentin an ihre Zuhörerschaft. Etwa beim Aufsetzen von Familienangeboten sollten immer alle Möglichkeiten und Familienmodelle mit einbezogen, die Angebote entsprechend formuliert werden.  Es gibt nicht nur die Standard-Familie. Und ganz konkret für diese schwierige Zeit mit Corona regte Scheuter an, Familien grundsätzlich zu entlasten. Etwa, indem man Patinnen und Ersatzgrosseltern vermittelt, Kontakt hält und Raum anbietet. Entweder für die Erwachsenen, damit sie für Homeoffice ein paar Stunden ins Kirchgemeindehaus ausweichen können. Oder für die Kinder. Oder die Mütter. Oder die Väter. Oder für alle.

 

Text: Susanne Thomann
Bild: Garofalo, Die Heilige Familie, 1515-1520, CC BY-SA 4.0 Städel Museum, Frankfurt am Main, Digitale Sammlung

Bericht zum Herunterladen (PDF)

Weitere Informationen

Referat Sabine Scheuter (PDF)

Luca Baschera, Frank Mathwig: Zankapfel Ehe. Ehe und Trauung für alle aus evangelisch-reformierter Sicht. Bern 2020. Publikation herunterladen auf evref.ch (PDF)

Ehe für alle auf ref.ch

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