Wandel der Familien – neue Generationenbeziehungen

Die Solidarität innerhalb von Familien ist abhängig davon, wieviel Freiraum die Gene­rationen einander lassen. Die derzeitigen gesellschaftlichen Trends wirken sich positiv darauf aus. Zu diesem Resultat kommt François Höpflinger, emeritierter Professor der Soziologie an der Universität Zürich.

Rund 30 diakonisch Arbeitende folgten der Einladung der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zum Vortrag "Wandel der Familien – neue Generationenbeziehungen" im Rah­men der Reihe "Lunch am Puls". Referent François Höpflinger räumte als erstes mit gän­gigen Vorurteilen auf, etwa mit der Meinung, die traditionelle Familie habe ausgedient. Im Gegenteil: repräsentative Umfragen zeigten bei jungen Menschen einen klaren Trend zu traditionellen Werten wie Hochzeit in Weiss, Treue und Kindern. Der gesellschaftliche An­teil an Singles liege unter 5%, und die Anzahl Kinder, die in Einelternfamilien aufwachsen, sei rückläufig. Auch die Beziehungen zwischen den Generationen seien besser geworden, die gegenseitige Hilfe habe zugenommen.

Späte Elternschaft

Laut Höpflinger führt einerseits der gesell­schaftliche Wandel und die damit verbundene Unsicherheit zur Aufwertung familialer Bezie­hungen, anderseits machte er die zunehmend späte Elternschaft dafür verantwortlich. Haben 1970 noch die meisten Frauen im Alter zwischen 22 und 24 Jahren erstmals geboren, so sind Erstgebärende heute im Schnitt 32 Jahre alt. Die verkürzte produktive Lebenszeit führt dazu, dass Schweizer Familien nur noch 1 bis 2 Kinder haben, was den Trend zur Klein­familie verstärkt. Die Gefahr dabei, so Höpflin­ger, sei die Überbewertung der Familie als intime Gemeinschaft und die Überbehütung der Kinder.

Einengenden Familienverhältnissen wirke ent­gegen, dass heute meist beide Elternteile arbeiten, nicht selten arbeiten müssen, um die Familie ernähren zu können. Dies öffne die Fa­milien und erlaube den Kindern, in Spielgrup­pen, Kinderkrippen und Tagesschulen Beziehungen ausserhalb der Familie einzuge­hen und ihr soziales Netz zu erweitern.

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Laut WHO-Studie wuchsen 2014 77 % der 11-15-jährigen Schweizer Kinder bei ihren biologischen Eltern auf, ca. 14 % bei einem Elternteil, ca. 8% in Stieffamilien. 2018 lebten knapp 5 % der über 65-jährigen Schweizer bei ihren Kindern. Bei einer Umfrage 2013 stimmten 45 % der 15-24-Jährigen der Aussage zu, dass Erwachsene ihre Eltern bei sich aufnehmen sollten, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, alleine zu leben. Bei den 45-54-Jährigen stimmten noch 27 % zu, bei den über 65-Jährigen nur noch 15 %.

Weitere Texte und Unterlagen zu Generationenfrage und Generationenbeziehungen von François Höpflinger

Autonomie fördert Solidarität

Eltern-Kind-Beziehungen seien eher besser ge­worden, sagte Höpflinger. Laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2013/14 gaben in der Schweiz 85% der 11-jährigen Mädchen und 82% der Knaben an, mit der Mutter gut über heikle Dinge re­den zu können. Im Alter von 15 waren es noch 77% der Mädchen und 68% der Knaben. Fami­lien seien, so Höpflinger, kinderfreundlicher als früher. Eltern agieren partnerschaftlicher und investieren viel in ihren Nachwuchs. Ver­nachlässigung und Gewalt sind rückläufig.

Auch die Beziehung zu den Grosseltern hat sich gemäss Höpflinger verbessert. Gute Bezie­hungen gäbe es vorab da, wo jede Familienge­neration autonom sei. Höpflinger nannte es „Intimität auf Abstand“. Heutige Grosseltern sind aktiv und selbstständig, leben ihr eigenes Leben und engagieren sich. In einer Umfrage 2018 gaben 90% der über 65-Jährigen an, enge Kontakte zu Kindern und Enkelkindern zu haben. Grosseltern leisten denn auch einen namhaften Beitrag an die Kinderbetreuung. Höpflinger bezifferte die von Grosseltern ge­leistete, unbezahlte Arbeit mit rund 8 Milliar­den Franken pro Jahr. Von diesem Einsatz profitieren sowohl Kinder und Eltern als auch die Grosseltern selber, denn aktive Grossel­ternschaft sei, so Höpflinger, ein sozialer Jungbrunnen für ältere Menschen.

Sorgen für die alten Eltern

Eher gewachsen sei umgekehrt auch die Soli­darität von Erwachsenen gegenüber ihren al­ten Eltern, erklärte Höpflinger. Die meisten Menschen würden heute im mittleren Alter mit der Gebrechlichkeit der eigenen Eltern konfrontiert. Dies bewirke zum einen, dass sie sich bereits jetzt Gedanken auch über das ei­gene Alter machen. Ansprüche an Alterspolitik und Betreuungsmöglichkeiten kämen meist nicht von den alten Menschen selber, sondern von der nachfolgenden Generation. Pflegeleis­tungen innerhalb der Familie sind zwar rück­läufig, dafür kümmern sich viele Erwachsene aktiv darum, dass ihre pflegebedürftigen El­tern professionell betreut werden. Dies nicht zuletzt darum, weil die Seniorinnen und Senio­ren ausserfamiliale Pflege vorziehen. Auch hier funktioniert Intimität auf Abstand.

Wirtschaftliche Vorteile

Die neueste Forschung zeigt, laut Höpflinger, eine Zunahme der Solidarität zwischen den Generationen. Als Ursache für Familienprob­leme sieht er nicht den sozialen Wandel per se, sondern überidealisierte und veraltete Bilder zu Familie, Eltern und Erziehung. Damit junge, offene Familien in unserer leis­tungsbezogenen Gesellschaft allerdings funktionieren und ihre Stärke entwickeln können, braucht es die entsprechende sozial­politische Struktur. Gemeinden und Städte, die diese anbieten, hätten einen entscheiden­den wirtschaftlichen Vorteil im Wettbewerb um junge Fachkräfte, ist Höpflinger überzeugt. Bezahlbare Familienwohnungen, Kitas und Ta­gesschulen, Spielplätze, kinderfreundliche Wohnquartiere und gemeinschaftsstärkende (idealerweise generationenübergreifende) Strukturen zögen junge Familien und damit auch die ersehnten Fachkräfte an.

Und die Kirche? "Die Kirche muss man zu den Menschen bringen", beantwortete der Refe­rent die Frage aus dem Publikum. "Die Leute in die Kirche holen, das funktioniert nicht." Ein Statement, über das sich nachzudenken lohnt.

Text: Susanne Thomann
Foto: Matthias Hunziker