„Er hat schon eine Schultasche, aber …“

Kinder sehen bei anderen Kindern die Armut. Armut stigmatisiert. Damit ein Kind im späteren Leben einen Weg hinaus findet, müssen ihm bereits im Vorschulalter Handlungsräume geöffnet werden, sagte die Referentin Muriel Degen Koch anlässlich Lunch am Puls.

Der Raum im Haus der Generationen in Bern war voll – wie jedes Mal. Lunch am Puls ist für viele sozialdiakonisch arbeitende Menschen zu einer festen Grösse geworden. Hier werden die Themen angesprochen, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert sind. Das Thema diesmal: Kinder und Eltern in armen Familien. Muriel Degen Koch vom Zürcher Marie Meierhofer Institut für das Kind zeigte auf, warum Kinder, die in Armut aufwachsen, auch als Erwachsene arm bleiben. Und sie wies den Weg, wie der Teufelskreis durchbrochen werden kann.

Was Kinder wahrnehmen

Ein kurzes Filmdokument der Caritas brachte erstaunliche Erkenntnis: Aussagen von Schulkindern über arme Klassenkameraden beschreiben präzise die Fakten. Kinder erkennen, was Armut bedeutet. „Die haben wirklich nur eine kleine Wohnung.“ „Das Zimmer sieht nicht schön aus.“ „Sie sind einfach eine megagrosse Familie“. „Sie ist auch nicht so gut in Mathe, Deutsch und Turnen.“ „Weil Mama und Papa nicht helfen können bei den Hausaufgaben.“

Was die Kinder sagen, deckt sich mit den Forschungsergebnissen. Kinder aus armen Familien verzichten an erster Stelle auf Ferien und bezahlte Freizeitangebote, sie haben aber – und das ist für ihre Entwicklung einschneidend – zuhause oft keinen Platz zum Lernen oder sich zurückzuziehen. Arme Familien wohnen in der Regel in alten und/oder kleinen Wohnungen, die Kinder haben kein eigenes Zimmer. Die Wohnsituation werde oft unterschätzt, sagte Degen Koch. Die Wohnungen seien oft in schlechtem Zustand, feucht, schimmlig, dunkel, lärmig und überbelegt. Gesundheitsschädigend, sowohl physisch als auch psychisch.

Armutsrisiken

Die höchste Armutsgefährdung haben Einelternfamilien mit noch abhängigen Kindern. 2014 waren in der Schweiz knapp 15 % der Einelternfamilien arm, rund 25 % waren armutsgefährdet. Während bei Familien mit 2 Elternteilen und 1 oder 2 abhängigen Kindern die Armut und Gefährdung gering sind, steigt das Risiko markant bei 3 und mehr Kindern.

Armut ist auch von der Erwerbssituation der Eltern abhängig, diese wiederum ist gekoppelt mit dem Bildungsniveau und der Nationalität. Interessant ist, dass sowohl tatsächliche Armut als auch das Risiko, arm zu werden, deutlich sinken, sobald einer der beiden Elternteile arbeitet, eine gute Ausbildung hat und/oder schweizerischer Nationalität ist.

Isolation und Resignation

Arm zu sein bedeutet für Kinder nicht nur Verzicht auf Ferien, neue Kleider und andere materiellen Dinge. Sie können in der Regel auch nicht an kostenpflichtigen Freizeitaktivitäten (Sport, Musikunterricht, usw.) teilnehmen und isolieren sich damit von Gleichaltrigen. Meistens fehlen im Haushalt altersgerechte Bücher und Spielsachen, Freunde einladen ist der beengten Wohnsituation wegen schwierig, ganz zu schweigen von einer Kindergeburtstagsparty. Es fehlt an Mobilität, denn eine Fahrkarte kostet. Draussen mit anderen zu spielen scheitert oft daran, dass die Wohnsituation es nicht erlaubt, dass Kinder unbegleitet die Wohnung verlassen. Oder die Kinder sind schon derart isoliert und resigniert, dass sie es nicht tun.

Es beginnt in frühester Kindheit

Das Übel beginnt damit, dass arme Familien schon beim Kleinkind sparen müssen. Es wächst in der Wohnung auf, die Eltern haben kein Geld für Muki-Turnen, Kinderspielgruppe, Verwandtenbesuche, gesundes Essen und pädagogisch wertvolles Spielzeug. Sprachbarrieren und kulturelle Traditionen verhindern manchmal auch, dass Mütter mit den Kindern Spielplätze aufsuchen. Wenn das Kind in den Kindergarten kommt, hat es bereits Defizite, die kaum mehr aufzuholen sind. Nicht selten ist es zudem in schlechter körperlicher und psychischer Verfassung und hat auf beiden Ebenen eine eingeschränkte Resilienz. „Armut kann man definieren als Unfähigkeit, Pläne zu schmieden“, zitierte Degen Koch den Westschweizer Soziologen Jean-Pierre Fragnière. Eine verheerende Prognose für das Kind.

So früh wie möglich Türen öffnen

Eltern wünschen sich, dass es den Kindern einmal besser geht als ihnen, und Eltern sind stolz auf ihre Kinder. Das ist der Weg, der die Türen öffnet, erklärte Degen Koch. Es reiche allerdings nicht, für die Kinder Angebote zu schaffen. Zuerst müssen die Zugangsbarrieren abgebaut werden. Sie zu finden ist nur möglich, wenn man mit jenen redet, die das Angebot nicht annehmen, postulierte die Referentin. Also: dorthin gehen, wo die Eltern sind, respektvoll mit ihnen reden, Perspektiven für das Kind aufzeigen und sie stärken für Verbesserungen innerhalb der Familie. „Die Eltern sind die Experten für das eigene Kind.“

Ideal für die Vertrauensbildung sei, eine Schlüsselperson einzubinden, die der Familie nahesteht und die Veränderungen unterstützt. Das kann der Bäcker sein, die Grossmutter, der Onkel. Wichtig ist laut Degen Koch, immer darauf zu achten, dass man kein Schicksal verallgemeinert. Jede Geschichte ist einzig und speziell.

Die Politik ist gefragt

In der kurzen Diskussion nach dem Referat ging es vor allem um Wohnbaupolitik. Es braucht kostengünstige Sozialwohnungen, auch in Bern. Der Teufelskreis der Armut kann nur durchbrochen werden, wenn die Familien überhaupt eine Chance haben, dem Kind den Raum zu geben, den es für seine Entwicklung braucht. Das fängt im Kinderzimmer an.

 

Text: Susanne Thomann
Foto: Matthias Hunziker

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Der nächste Lunch am Puls findet am 11. Februar 2020 statt. Thema: Was der Liebe gut tut

Weitere Informationen

Referat Muriel Degen Koch (PDF)

Marie Meierhofer Institut

Nationale Plattform gegen Armut

Armutsprävention: Aspekte und Bausteine gelingender Elternzusammenarbeit im Kontext der Armutsprävention in der frühen Kindheit (PDF)

Kinderarmut aus dem Blickwinkel von Kindern (Video 1)

Kinderarmut aus dem Blickwinkel von Kindern (Video 2)

Artikel zum Thema Kinderarmut in der Schweiz in der Zeitschrift Fritz & Fränzi


Kinderarmut in der Schweiz

Gemäss einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik BFS aus dem Jahr 2014 leben in der Schweiz

234‘000 Kinder und Jugendliche in armutsgefährdeten Haushalten

73‘000 sind direkt von Armut betroffen

161‘000 leben in prekären Verhältnissen

Eine von Armut betroffene Familie muss in der Schweiz mit weniger als 20 Franken pro Tag und Person über die Runden kommen.