Darf Papa anders sein als Mama?

Provokative Thesen, Vorurteile und Forschungsergebnisse, die nachdenklich stimmen. Prof. Margrit Stamm führte mit ihrem Referat anlässlich Lunch am Puls eindrücklich vor Augen, wie festgefahren unsere Bilder sind, wenn es um die Rollen von Vater und Mutter geht.

Mütter sind überlastet, Väter haben Defizite. Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, bezog diese Grundannahme auf die typische Mittelschichtsfamilie. Die Ausführungen dazu überraschten mehr durch ihre schonungslose Klarheit als durch die Aussagen selber: Frauen können es nie allen recht machen. Sind sie kinderlos, gelten sie als kaltherzig; sind sie Hausfrau, gelten sie als langweilig und faul; sind sie berufstätig, sind sie egoistisch und vernachlässigen die Kinder. Sie leiden unter Doppelbelastung, Vereinbarkeitsproblemen und beruflicher Diskriminierung.

75% aller Frauen, so Stamm zu ihren Forschungsergebnissen, übernehmen die Verantwortung für die Familie. Auch dann, wenn sie in egalitären Ehen leben. Die Männer sind die Schuldigen. Sie helfen zu wenig im Haushalt und bei der Kindererziehung. Allerdings, betonte Stamm, kämpfen auch die Männer mit überhöhten Ansprüchen, mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Nur werden die Probleme der Männer  – anders als jene der Frauen – gesellschaftlich bagatellisiert.

Abwesende Väter – treusorgende Mütter

Es gehöre zu den gängigen Vorurteilen unserer Gesellschaft, so Stamm, dass mehr häusliche Anwesenheit aus Männern bessere Väter mache. Das sei empirisch widerlegt. Genauso falsch sei die Annahme, dass die Mutter von Natur aus die fürsorglichere Person sei.

Präsenz allein ist laut Stamm kein Merkmal für einen guten Vater. Wichtiger ist, dass ein Vater während seiner Anwesenheit für das Kind da ist. Aufmerksame Väter sind gute Väter. Ständig anwesende Väter, die sich nicht um die Kinder kümmern, seien sogar schädlich für die Entwicklung des Kindes.

Fürsorglich sind beide, Männer und Frauen, nur sind sie es auf verschiedene Art. Die Mutter sei eher für Bindungssicherheit und beschützenden Körperkontakt zuständig, sagte die Referentin, der Vater eher für das Erkundungsverhalten und das Selbstvertrauen des Kindes. Trotzdem finden 70% der befragten Eltern, dass die Mutter die Fürsorglichere sei. Die Rollenbilder sind gemacht.

Der Mama-Mythos

Eine perfekte Mutter zu sein sei heute ein gesellschaftliches Mandat und der Grund, weshalb sich viele Frauen überforderten, postulierte Stamm. Mütter stehen gesellschaftlich unter Dauerüberwachung. Im Bus, im Tram, im Zug, in Fachinstitutionen, in der Verwandtschaft – alle wissen es besser. Alle wissen, wie eine gute Mutter zu sein hat. Ein Beispiel aus der Praxis? Eine Mutter, die mit einem schreienden Kleinkind im Tram sitzt, wird beurteilt und beargwöhnt. Ein Vater, der mit einem schreienden Kleinkind im Tram sitzt, bekommt wohlwollende Hilfe. Frauen sind nicht schwach, sie tragen ein gerütteltes Mass an gesellschaftlicher Last.

Dazu gehört – leider – auch die Konkurrenz zwischen den Frauen (mommy wars). Frauen sind solidarisch mit jenen, die dasselbe Familien-/Erziehungsmodell leben (Hausfrau, erwerbstätig, alleinerziehend, stillen, Stoffwindeln, vorgefertigte Babynahrung, usw.). Ausserhalb dieser bubbles hört die Solidarität auf.

Herkunft des Mama-Mythos

Stamm sieht den Auslöser dieses Supermutter-Bildes einerseits im Neoliberalismus der 90er-Jahre, der den Frauen die ganze Verantwortung für die Entwicklung des Kindes zuschiebt. Das Kind soll seiner optimalen individuellen Leistungsfähigkeit zugeführt werden. Und: wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Anderseits sieht Stamm die Bindungs- und Hirnforschung in der Verantwortung, welche die Rolle der Mutter überhöht: Die Mutter hat eine innige emotionale Bindung zum Kind, von Geburt an ist sie in jedem Augenblick fokussiert auf ihr Baby und seine Bedürfnisse. Sie ist intensiv, selbstlos und liebevoll.

Männliche und weibliche Rollen

Mutter und Vater sind zwei verschiedene Rollen, ein Kind braucht für seine Entwicklung beide. Es braucht die emotionale Bindungssicherheit des weiblichen Elements ebenso wie das Erkunden der Welt und seiner eigenen Kraft zusammen mit dem männlichen Element. Dabei ist es laut Stamm nicht wichtig, dass und wie die Rollen auf Mann und Frau verteilt sind. Es sollten aber beide Elemente vorhanden sein. Bei gleichgeschlechtlichen Eltern, zum Beispiel, sind die Elemente nicht traditionell verteilt.

In rund 30% der Familien sind es die Frauen, die vorgeben, wie das Familienleben zu laufen hat (maternal gatekeeping). Sie bestimmen die Abläufe, Rituale und Standards. Die Männer werden, wenn sie sich einbringen wollen, angeleitet. Sie werden zu Praktikanten und lernen sich Hilflosigkeit an, so Stamm. Ein solcher Mann kann seine Vaterrolle nicht wahrnehmen, er wird von der Frau daran gehindert. Er wird versuchen, es der Frau recht zu machen und kopiert ihre Verhaltensweise. Dem Kind fehlt so das Spannungsfeld, in welchem es sich entwickeln kann.

Neue Väter – neue Mütter

Um den Mama-Mythos zu durchbrechen und die (hilflosen) Väter zu ermächtigen, braucht es Selbstreflexion, sowohl von den Männern als auch von den Frauen. Das war das Fazit der an das Referat anschliessenden Diskussionsrunde, die rege benutzt wurde. Das eigene Rollenverständnis hinterfragen und als Person authentisch sein. Junge Männer wollen nicht werden wie ihre Väter, haben aber kein Vorbild, kein Modell, wie es anders gehen könnte. Hier sind die Frauen gefragt. Sie könnten Verantwortung abgeben, den Vätern eigenen Raum zugestehen. Es sind aber auch die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft gefordert. Familienarbeit sollte höher gewertet werden. Betriebe könnten Erwerbsmodelle anbieten, die Eltern erlauben, Arbeit und Kindererziehung gemeinsam zu managen.

Die Referentin gab fünf Hinweise, wie es möglich ist, die alten Muster zu durchbrechen:

  • Die Weichen neu stellen: weg von der weiblichen Maximierrolle und dem männlichen «Praktikanten»
  • Umdenken: das überhöhte Mama-Ideal normalisieren
  • Hinreichend gute Elternschaft: ein guter Vater ist nicht die Imitation der (innigen) Mutter
  • Selbstbewusst werden: die eigene Persönlichkeit wieder entdecken, weg vom Mainstream
  • Ein Paarmodell leben, das beiden Entwicklung und Zukunft ermöglicht: es gibt viele Varianten, die egalitäre Partnerschaft ist nur eine davon

 

Prof. Dr. Margrit Stamm ist Professorin emerita für Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education

 

Text: Susanne Thomann
Bild: Matthias Hunziker

 

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Weitere Informationen

Handout des Referats zum Herunterladen

Homepage von Margrit Stamm

Zum Thema passende Publikationen von Margrit Stamm:

  • Neue Väter brauchen neue Mütter – Warum Familie nur gemeinsam gelingt; Piper 2018
  • Du musst nicht perfekt sein, Mama! – Schluss mit dem Supermama-Mythos – Wie wir uns von überhöhten Ansprüchen befreien; Piper 2020
  • Angepasst, strebsam, unglücklich – Die Folge der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder; erscheint bei Random House im August 2022

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