Krankheit - ein Ur-Thema von Kirche

Schriftliches Interview mit Alena Ramseyer und Helena Durtschi, Verantwortliche für den Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit.

Warum benötigen diakonisch arbeitende Menschen einen Erste-Hilfe Kurs für psychische Gesundheit?

Alena Ramseyer: Die meisten Menschen wissen, wie sie reagieren müssen und was zu tun ist, wenn sie auf der Strasse auf einen Unfall stossen. Ganz anders sieht es bei psychischen Erkrankungen und Krisen aus. Viele wissen nicht, wie sie sie reagieren sollen, wenn jemand Suizidabsichten äussert oder eine Panikattacke hat. Hier setzt die Idee der ensa - Kurse an:  Erste Hilfe Kurse soll es nicht nur für physische, sondern auch für psychische Gesundheit geben.

Helena Durtschi: Ich bin Theologin und Sozialarbeiterin, aber ich habe in keiner meiner Ausbildungen etwas über psychische Erkrankungen gelernt. Das Thema wird zu wenig aufgenommen. Dabei weiss man heute, dass jeder zweite Mensch mindestens einmal im Leben eine nachhaltige psychische Erschütterung oder Krankheit erlebt.

Alena Ramseyer: Praktisch alle Mitarbeitenden der Kirche begegnen im Rahmen ihres Auftrags Menschen in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen. Sie haben mit unterschiedlichen Altersgruppen und sozialen Schichten zu tun.  Daraus lässt sich schliessen, dass sie auch zu Menschen mit psychischen Erschütterungen und Krankheiten Kontakt haben.

Warum reagiert die Kirche gerade jetzt auf das Thema?

Alena Ramseyer: Aufgrund der Corona- Situation nehmen psychische Erkrankungen weiter zu.  Fast alle kennen jemanden, dem es derzeit nicht gut geht. Die Anlaufstellen sind überlastet. Die Dargebotene Hand, Nummer 143, verzeichnet eine massiv erhöhte Nachfrage. Es gibt Wartefristen für Hilfsangebote. Und je länger man mit einer Intervention wartet, desto schwerer kann der Verlauf einer psychischen Erkrankung sein. Deshalb wollen auch wir handeln.

Helena Durtschi: Die Schwellenangst, eine Beratung bei psychischen Problemen in Anspruch zu nehmen, ist in der Regel hoch. Der ensa Kurs ist ein sogenanntes Frühinterventionsprogramm. Konkret geht es darum, dass die Teilnehmenden nach Abschluss des Kurses eine Brückenfunktion einnehmen, indem sie Betroffene kompetent und behutsam auf ihr Leiden ansprechen und sie in einem nächsten Schritt ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Was genau lernen die Kursteilnehmenden?

Alena Ramseyer: Es wird ein Grundwissen zu psychischen Erkrankungen vermittelt. Das Handbuch, auf dem der Kurs aufbaut, unterscheidet zwischen einer psychischer Erkrankung und Krise. Es geht detailliert auf die vier häufigsten Erkrankungen ein, auf Angststörung, Depression, Psychose und Sucht. Man lernt, die dazugehörenden Krisensituationen zu unterscheiden und auf die jeweiligen Störungen spezifisch zu reagieren. Eine Krise ist eine Situation in der ein schnelles Handeln gefordert ist. Dabei kann es sich um einen schweren Rauschzustand, Suizidabsichten, Gewalt, eine schwere psychotische Krise oder eine Panikattacke handeln.  Bei einer sich langsam anbahnenden Störung oder Krankheit hat man mehr Zeit. Da geht es darum, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und sie auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Geübt werden deshalb auch Gesprächsführung und Fragemethoden. Ausserdem wissen die Teilnehmenden nach dem Kurs, wie sie Betroffene und Angehörige an die spezifischen Fachstellen vermitteln können. 

Warum ist das eine Aufgabe der Kirche?

Helena Durtschi: Krankheit ist ein Urthema der Kirche. Im Alten Testament hat man Kranke stigmatisiert, denn Krankheit wurde als Strafe Gottes verstanden. Deshalb wollte man nichts mit Kranken zu tun haben. Vor allem in den Psalmen kommt eindrücklich zur Sprache, dass kranke Menschen fast mehr unter der Stigmatisierung als unter der körperlichen Krankheit litten.
Die Vorstellung, dass Krankheit selbstverschuldet ist, gibt es auch heute noch. So gehen viele Menschen davon aus, dass Depressive sich einfach etwas mehr zusammennehmen müssten oder Menschen mit einer Suchterkrankung verantwortungslos und charakterschwach sind.
Jakob Bösch, ehemaliger Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Baselland, hat sich vor über 20 Jahren in einem Interview der Basler Zeitung zur Thematik "Sensitivität und Psychose" geäussert. Dabei stellte er fest, dass in unserem mechanistisch-materialistischem Weltverständnis Menschen mit ungewöhnlichen Sinneswahrnehmungen in der Psychiatrie die Diagnose schizophren bekommen. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen war das anders. Alttestamentliche Propheten, mittelalterliche Mystiker und Heilige müssten also auch Schizophrene gewesen sein. Anders ausgedrückt: Heute betrachtet man Menschen mit solchen besonderen Begabungen als krank. Unsere rationale Gesellschaft hat alles Irrationale ins Negative abgedrängt. Was krank und was gesund ist, wird also weitgehend durch das Wertesystem einer Gesellschaft definiert.
Spannend finde ich diesbezüglich, dass auch Jesus aussersinnliche Wahrnehmungen hatte, zum Beispiel bei seinem Aufenthalt in der Wüste. Jesus wird auch beschrieben als einer, der "Besessene", also Menschen, die unter Wahnvorstellungen leiden, meist vor grossem Publikum heilt.  Er heilt die Menschen, indem er sie annimmt und akzeptiert wie sie sind. Seine Botschaft geht an den Kranken und an die Zuschauer. Er befreit beide von der negativen Sicht auf die Krankheit.

Alena Ramseyer: Gesund oder krank, das ist eine Frage der Definition und der eigenen Wertehaltung. Konkret: Sogenannt gesunde Menschen können mit ihrem Leben unzufrieden sein, während sogenannt kranke Menschen glücklich sind. Das Ziel kann deshalb nicht sein, Krankheit "wegzumachen", sondern sie als Teil des Lebens zu akzeptieren und damit umgehen zu lernen.

Was genau bringt der Kurs einem kirchlichen Mitarbeiter/einer kirchlichen Mitarbeiterin?

Alena Ramseyer: Er/sie gewinnt Sicherheit im Handeln, weiss also, wie in der konkreten Situation reagieren. Die Mitarbeitenden werden für ein wichtiges Thema in unserer Zeit sensibilisiert, und sie haben die Gelegenheit, untereinander ein erstes Netz für einen vertiefteren Austausch zu diesem Thema zu weben. Wir hoffen, dass immer mehr Leute aus den Kirchgemeinden mitmachen. Kirchgemeinden sind immer noch für viele Menschen ein wichtiger Ort, wo sie sich vernetzen können. Und ganz konkret: es gibt am Schluss auch ein Zertifikat.

Helena Durtschi: Im 19. Jahrhundert hat man psychisch Kranke weggesperrt, ihre Not war gross. Es kam immer wieder vor, dass psychisch Kranke von ihrer eigenen Familie auf dem Bauernhof eingesperrt wurden. „Ds Dubeli“ wurde bei Wasser und Brot gehalten und konnte froh sein, wenn ihm die Schweine im Futtertrog noch etwas übrig liessen. Man glaubte, die Krankheit sei ansteckend. Es waren Pfarrpersonen, die bei Hausbesuchen das Elend dieser Weggesperrten wahrnahmen und aktiv wurden. So kam es 1880 in Zusammenarbeit mit den damaligen Klinikdirektoren der Waldau und St. Urban zur Gründung des Hilfsvereins für Psychisch Kranke. Ziel war, Menschen den Eintritt in eine Heilanstalt zu ermöglichen und sie nach Austritt sozial zu unterstützen. Den Hilfsverein gibt es heute noch, unsere Synodalrätin ist im Vorstand vertreten.
Wir beginnen ebenfalls mit den Amtsträgerinnen und Amtsträgern, die neues Wissen und eine neue Haltung in die Kirchgemeinden hineintragen können.

Helena Durtschi und Alena Ramseyer

Weitere Informationen

ensa Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit

„crazywise“ ist ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilm (2016) über den Umgang mit psychischer Krankheit in den verschiedenen Kulturen. Er wird von Pro Mente Sana unterstützt. Der Film ist auf diversen Plattformen streambar und bei Amazon auf DVD erhältlich.

Trailer auf Youtube

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