Wenn Mama zum Biest wird

Kinder von psychisch erkrankten Eltern bleiben oft im Schatten. Diana Michaelis von der Stiftung Rheinleben will das ändern. Im Rahmen der Veranstaltung «Lunch am Puls» interviewte sie eine Betroffene und zeigte Wege aus der Isolation auf.

«Es gibt sie überall», so die Sozialarbeiterin und Kunsttherapeutin Diana Michaelis von der Stiftung Rheinleben. Sie meint Kinder psychisch erkrankter Eltern. Nur Betreuung für diese ist selten. Michaelis leitet eine der wenigen Beratungsstellen, setzt sich dafür ein, dass diese «Schattenkinder» nicht vergessen gehen. Als Einstieg in ihr Referat, das sie im Rahmen der Veranstaltung «Lunch am Puls» hält, präsentiert sie den Kurzfilm «Der Kleine und das Biest.» Ein Kind erzählt wie Mama sich in ein Biest verwandelt hat. «Um alles muss man sich selber kümmern als wäre sie gar nicht da», beschreibt das Kind den Zustand, der hier als eindringliches Bild für eine psychische Krankheit steht. «Niemand weiss wie lange so eine Verbiesterung dauert», kommentiert das Kind lakonisch. Im Anschluss an den Film, der ein glückliches Ende nimmt, präsentiert Michaelis Zahlen. Es besteht ein 50%iges Risiko im Laufe eines Lebens psychisch zu erkranken. 18% der Eltern von minderjährigen Kindern in der Schweiz sind psychisch erkrankt. Kinder solcher Eltern haben ein drei bis siebenfaches Risiko selbst zu erkranken. Fachstellen für Angehörige gibt es mittlerweile 19 an 30 Standorten- explizit für Kinder sind es gerade einmal drei. Es sind mehrheitlich Frauen, die die Angebote in Anspruch nehmen: Mütter, Partnerinnen und Schwestern. Die Krankheitsbilder sind divers, das Spektrum reicht von Depressionen über Psychosen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, Suchtkrankheiten und Autismus.

Angst, Scham und Wut

Michaelis präsentiert ein Bild mit einem Betroffenen und dessen Angehörigen. Die Partnerin steht im Halbschatten, die Kinder gänzlich im Schatten. «Angehörige werden oft nicht involviert oder gefragt wie sie empfinden», so die Sozialarbeiterin. «Kinder werden vom System nicht gesehen.» Dabei brauche in so einer Situation das ganze Familiensystem Unterstützung. Auswirkungen auf Kinder von psychisch erkrankten Eltern sind vielfältig. Die Belastungen können sich sozio-ökonomisch auswirken, auf die Schule und Freizeit ausstrahlen und für Schamgefühle sorgen. «Es ist oft eine Situation, die Kinder nicht verstehen», so Michaelis. Angst, Scham, Wut und Trauer machten sich breit. Oft kämen Schuldgefühle dazu. Es könne zur so genannten Parentifizierung kommen, einem Rollentausch. Etwa wenn ein zwölfjähriger für seine erkrankte Mutter die Steuererklärung mache oder eine Sechsjährige das Kochen übernehme. «Solche Kinder geraten in einen Funktioniermodus und verlieren den Zugang zur eigenen Befindlichkeit», so Michaelis. Kinder litten häufig auch unter Stigmatisierung und Tabuisierung. «Sie verstecken ihre Eltern, sprechen nicht darüber.»

Was gilt? Was ist wahr?

Michaelis spricht auch über die Ängste von Kindern psychisch erkrankter Eltern. Das Spektrum reicht von der Angst vor dem erkrankten Elternteil bis hin zu Angst selbst zu erkranken. «Auch unauffällige Kinder können von Aussenstehenden erkannt werden», so Michaelis. Sie gibt ein Beispiel einer Volleyball-Trainerin, die merkte, dass ein Kind immer müde und unkonzentriert war. Als das Kind erzählen konnte, was zu Hause läuft, ging es ihm besser. Tragende Beziehungen auch ausserhalb der Familie können zur Stärkung der betroffenen Kinder beitragen. Schliesslich stellt Michaelis A. vor, «ein erwachsenes Kind», einer psychisch erkrankten Mutter, das offen über ihre Erfahrungen spricht. A. ist als ältestes von drei Schwestern aufgewachsen. Als sie zwölf ist, trennen sich die Eltern. Die Mutter hat eine bipolare Störung. Im Winter verfällt sie regelmässig in Depressionen, im Sommer folgt eine manische Phase. «Mein Vater blieb in der Nähe wohnen und hat oft für uns gekocht», so A. In besonders schwierigen Momenten, nahm die Tante die Kinder zu sich. Die Spitex kam regelmässig vorbei, um die Familie im Haushalt zu unterstützten. Den richtigen Ton, um die Kinder zu erreichen, traf die Betreuungsperson jedoch nicht. «Niemand fragte, wie es für uns ist», so A. Wenn die Mutter manisch war, gab sie viel Geld aus, versprach den Kindern gar einmal ein Pferd. Im Winter ging dann plötzlich nichts mehr. Was gilt? Was ist wahr? Wer ist sie? Diese Fragen stellte sich A. Als älteste Schwester übernahm sie viel Verantwortung. Sie war es auch, die sich aktiv Hilfe holte und sich an die Stiftung Rheinleben wandte.

Darf es mir gut gehen?

«Ich war ein unauffälliges Kind», erinnert sich A. Darf es mir gut gehen? Darf ich ins Lager gehen, wenn sie in der Klinik ist? «Ist jemand auf dich zugekommen?», will Michaelis von A. wissen. «Als ich elf Jahre alt war gab es einen runden Tisch, eine Krisenintervention.» Diese habe sie sehr positiv in Erinnerung. Die Psychiaterin der Mutter hingegen habe keine Auskunft gegeben, war nie erreichbar. «Was hätte dir geholfen?», hakt Michaelis nach. «Deine Anlaufstelle früher zu haben», sagt A. «Reden in geschütztem Kontext.»

Zum Schluss stellt Michaelis Sibylle Glauser, die eine Anlaufstelle in Bern führt vor. Glauser ist selbst betroffen, hat einen Bruder, der seit dreissig Jahren mit Schizophrenie lebt. Die ausgebildete Psychologin hat nach langem Ringen eine 50 %, an die UPD angeschlossene Stelle, bewilligt bekommen. Im Lobhaus bietet sie niederschwellige Beratung an. Diese ist kostenlos und unterliegt der Schweigepflicht. «Ich bin 100% erreichbar». Der Bedarf ist gross, das Angebot verhältnismässig gering. «Ich hoffe wir konnten mit dieser Veranstaltung den Scheinwerfer verschieben, die Betroffenen etwas aus dem Schatten holen», sagt Alena Gaberell, Mitorganisatorin von «Lunch am Puls» zum Schluss.

Text: Helen Lagger
Bild: Matthias Hunziker

 

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