Wohlbefinden im Alter – besser als erwartet

Das Bild, welches wir vom Alter haben, sei zu negativ, sagte die Referentin PD Dr. Myriam Thoma anlässlich von Lunch am Puls. Das Wohlbefinden im Alter sei grösser als man gemeinhin annimmt. Das Referat und die aktuellen Forschungsergebnisse zum Thema «Psychische Gesundheit im Alter» stiessen auf reges Interesse.

Die Zahlen sind verblüffend: Die Lebenserwartung der Menschen hat seit 1876 um fast 40 Jahre zugenommen. Aber bedeutet diese Zunahme an Lebensjahren auch mehr gesunde Jahre im Alter? Korreliert hier die Quantität mit der Qualität? fragte Myriam Thoma, die an der Universität Zürich intensiv in diesem Themenbereich forscht. Die Antwort ist erstaunlich: Obschon chronische Erkrankungen im Alter fast unumgänglich sind, kognitive und funktionale Fähigkeiten abnehmen und das soziale Netzwerk schrumpft, bleibt das Wohlbefinden gleich hoch wie bei jungen Menschen. Dieses Phänomen ist in der Literatur als «Wohlbefindensparadox» bekannt. Was mögliche Gründe dafür sind, wurde im Referat besprochen.

Abbau bleibt nicht erspart

Rund 85% der älteren Menschen leiden an mindestens einer chronischen Erkrankung, etwa drei Viertel davon (66-77%) an zwei und mehr. Zudem baut die Muskelkraft über den Lebensverlauf nach und nach ab, der Stoffwechsel wird langsamer, Vitalkraft, Seh- und Hörvermögen sowie die Mobilität schwinden. Auch die kognitiven Funktionen werden weniger, so etwa die Gedächtnis- und Verarbeitungsgeschwindigkeit. (Interessant: laut Forschungsergebnissen beginnt der Abbau bereits zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr). Gemessen an der Lebenserwartung verbringen Frauen 77% ihrer Lebensjahre gesund, bei den Männern sind es 81%.

Auch die Häufigkeit von psychischen Störungen scheint im Laufe des Lebens zu sinken. Ältere Menschen werden im Vergleich zu jüngeren seltener mit einer psychischen Störung diagnostiziert. Über alle Altersgruppen hinweg sind davon mehr Frauen als Männer betroffen. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern sei jedoch nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass Frauen ein anderes Hilfesuchverhalten als Männer zeigen, und sich bestimmte psychische Störungen anders präsentieren, relativierte Thoma diesen Unterschied. Frauen seien auch häufiger Mehrfachbelastungen (z.B. Kindererziehung, Job, Pflege von Angehörigen) ausgesetzt, was psychische Störungen begünstige.

Abnehmendes Netzwerk

Spätestens mit der Pensionierung beginnt auch sozial ein neuer Lebensabschnitt. Das Beziehungsnetz schrumpft nach und nach. Berufsbeziehungen versanden. Freunde und Verwandte sterben weg. Bei den von Thoma präsentierten Grafiken ist interessant, dass der Verlust an Beziehungen bereits Mitte 30 beginnt und über die Lebensjahre kontinuierlich verläuft. Dabei bleiben die familiären Beziehungen mehr oder weniger konstant, während die Anzahl der Freunde und Bekannten langsam kleiner wird.

Wohlbefinden bleibt

Wie erklärt sich, dass das subjektive Wohlbefinden und damit gemäss Definition auch die psychische Gesundheit trotz all der Mühsal gleich bleibt? Laut Thoma ist erwiesen, dass ältere Menschen ihre Emotionen besser regulieren können. Dank der Lebenserfahrung haben sie gelernt, sich selbst sowie andere Menschen und Situationen besser einzuschätzen. Obwohl die positive und die negative Affektivität (alles, was mit Emotionen und Gefühlen zu tun hat) über den Lebensverlauf abnehmen, geht die negative Affektivität deutlich stärker zurück als die positive. Das führt insgesamt zu einer besseren Affektbilanz im Alter, d.h. dass die positive Affektivität deutlich höher ist als die negative.

Beziehungen sind wertvoll

Im Laufe eines Lebens etablieren sich auch reifere Bewältigungsformen. Konflikte werden stärker reflektiert, Gefühle ernster genommen, man ist gelassener, muss nicht immer Recht haben, kann auch andere Haltungen und Meinungen besser akzeptieren. Die verbliebenen Beziehungen werden stärker gepflegt, sind enger und befriedigender, und die Vergebungsbereitschaft wird grösser. Das Bedürfnis nach Harmonie wächst.

Ältere Menschen können in der Regel besser mit Stress umgehen als jüngere, sagte Thoma. Und Stress sei einer der Hauptauslöser für psychische Störungen. Entsprechend nehme die Häufigkeit für psychische Störungen mit dem Alter ab. Man müsse jedoch klar betonen, dass psychische Störungen im Alter auch häufig übersehen werden und die Forschung diesbezüglich noch viel Raum nach oben habe.

Gutes Altern ist lernbar

Ein psychisch gesundes und zufriedenes Alter könne man fördern und lernen, sagte die Referentin. Sie zeigte die wichtigsten Voraussetzungen dazu auf.

  • Mentale Ruhe und Entspannung: was gibt mir Ruhe, was tut mir gut? Kontakt mit der Natur, Meditation, Gebet, usw.
  • Mentale Bewertung der Lebensbelastungen: Schwierige Lebenssituationen als Herausforderungen betrachten und nicht als Bedrohung.
  • Dem (Er-)Leben einen Sinn geben: nicht WAS wir erleben ist wichtig, sondern WIE wir es erleben.
  • Sich selbst wertschätzen: mit sich selber freundlich, gütig und verständnisvoll sein. Keine Selbstvorwürfe machen, wenn mal etwas schiefläuft.
  • Dankbar sein: auch für kleine, alltägliche Dinge Dankbarkeit empfinden, Dankbarkeit bewusst praktizieren.

PD Dr. phil. Myriam V. Thoma ist Dozentin und Arbeitsgruppenleiterin am Psychologischen Institut der Universität Zürich, Fachrichtung Psychopathologie und Klinische Intervention. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Klinische Gerontopsychologie, Psychopathologie, komplexe Traumafolgestörungen, Stress und Resilienz über die Lebensspanne.

Text: Susanne Thomann
Bild: Miriam Deuble

Bericht zum Herunterladen (PDF)

Weiterführende Literatur

Maercker, A. (2014). Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Berlin Heidelberg: Springer Verlag.

Schuler, D., Tuch, A., Buscher, N., & Camenzind, P. (2016). Psychische Gesundheit in der Schweiz (Obsan Bericht 72).

Rampe, M. (2004). Der R-Faktor: Das Geheimnis unserer inneren Stärke. Frankfurt a. M.: Books on Demand.

Frankl, V. E. (2021). Über den Sinn des Lebens. Beltz.

 

Weitere Informationen

Homepage Myriam V. Thoma

Psychische Gesundheit und Diakonie

ensa - Erste Hilfe für psychische Gesundheit

Lunch am Puls