Die neue Care-Kultur als Herausforderung und Abenteuer

Klare Worte und ein pragmatisches Konzept: Das Referat von Cornelia Coenen-Marx, Theologin und Publizistin aus Hannover, löste unter den Anwesenden der 26. Bernischen Diakoniekonferenz angeregte Diskussion aus. Der Saal im Kirchgemeindehaus Frieden in Bern war – unter Berücksichtigung der Corona-Massnahmen – bis auf den letzten Platz besetzt.

Synodalrätin Claudia Hubacher nahm es bei ihrer Begrüssung vorneweg: Das Thema Care-Kultur ist in Zeiten der Pandemie aktueller denn je. Vor allem während des Lockdown sei klar geworden, dass eine sorgende Gemeinschaft alle Generationen angehe. Die Referentin Cornelia Coenen-Marx nahm den Faden in ihrem Referat auf. Corona hat aufgezeigt, was unsere auf individuellen Erfolg und persönliches Glück ausgelegte Gesellschaft erschüttert: Niemand ist Herr und Meister seines eigenen Lebens. Wir alle sind Teil eines Netzwerks und aufeinander angewiesen.

Einsamkeit und Überforderung

Die Zahlen, die Coenen-Marx präsentierte, stammten aus Deutschland, in der Schweiz dürfte es aber ähnlich aussehen. 46% der 70- bis 85-Jährigen leben allein, 30% der Menschen zwischen 18 und 65 sind Single. Fast die Hälfte der Deutschen fühlt sich – zumindest hin und wieder – einsam.  Einsamkeit, Angst und Überforderung sind dabei kein typisches Altersproblem. Betroffen sind auch Jugendliche, Alleinerziehende und junge Familien. Die alltägliche Einbettung in Familie und Nachbarschaft kann im Laufe eines Lebens verloren gehen. Etwa durch Pendeln, Umzug, Armut, Flucht oder Überforderung.

Das Problem ist nicht neu. Coenen-Marx verglich den heutigen Zustand der Gesellschaft mit jenem des 19. Jahrhunderts, als Industrialisierung und Migration die herkömmlichen Bindungsstrukturen zerriss. Damals entstanden die Frauenvereine, die sich um verarmte Familien und kranke Menschen kümmerten, Nähstuben und Gassenküchen eröffneten.

Aufbruch von unten

Sorgende Gemeinschaft lässt sich nicht verordnen. Sie muss von unten wachsen. Das Problem sei, dass für eine funktionierende Care-Kultur private Initiative allein nicht ausreiche, sagte Coenen-Marx. Auch wenn alle Beispiele, die die Referentin aufzeigte, jeweils von einer privaten Einzelperson ausgingen: es braucht stabile Strukturen, damit sich ein Sorge-Netzwerk entwickeln kann. Die Aufgaben müssen verteilt werden, jeder soll auf seine Weise beitragen. Nachbarschaftshilfe darf nicht zu einer Überlastung von Einzelpersonen führen. Ideal ist, wenn eine Vernetzung mit professionellen Aussenstellen stattfindet. Zum Beispiel mit Spitex, Beratungsstellen, Arzt, Seelsorge. Oder der Kirche.

Kirchgemeinden haben Liegenschaften und Personal. Sie bieten diakonische Dienste an. Sie sind stabile Institutionen mit einem professionellen Netzwerk, mit Wissen über die Menschen in ihrem Einzugsgebiet. Sie wären der optimale Partner für sorgende Gemeinschaften. Warum nicht teilen, was man hat?

Christliche Gemeinde als Wahlfamilie

Die ersten christlichen Gemeinden, so Coenen-Marx, waren nichts anderes als sorgende Gemeinschaften. Die ersten Christen mussten nicht selten ihr vertrautes Umfeld verlassen, um sich dem neuen Glauben anzuschliessen. Die Gemeinde wurde zur Wahlfamilie. Ein Mischtiegel aus verschiedenen Menschen verschiedener Herkunft. Die Gemeinschaften waren so attraktiv, dass sie schnell wuchsen.

Wo steht die Kirche heute? Werden Einzelinitiative und Engagement wahrgenommen, integriert, gestützt und getragen? Auch wenn sie von aussen kommen?  

Kirche als Teil der Gemeinschaft

Wenn jeder ein Bollwerk seiner eigenen Stärke ist, dann funktioniert Gemeinschaft nicht, sagte Coenen-Marx. Gemeinschaft funktioniert da, wo Menschen ihre Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit benennen dürfen, wo es ein WIR gibt. Gleiche Augenhöhe. Eine Gemeinschaft von Un-Perfekten, die alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.

Die Diskussion im Anschluss an das Referat zeigte eindrücklich, wo eine Kursänderung nötig ist, damit Care-Kultur in und mit der Kirchgemeinde gelingt: Kirche muss hinausgehen zu den Leuten, muss Teil des Alltags werden. Nicht für, sondern mit den Menschen. Oder wie es ein Votum aus dem Saal deutlich machte: Wir müssen hinausgehen und fragen, was die Menschen brauchen. Nicht Projekte erfinden, die wir selber toll finden.

Zeit und Ruhe

Die Kirchgemeinden stehen mitten in einem sozialen Raum. Es geht laut Coenen-Marx  darum, den Blick nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern auf das Miteinander im Sozialraum zu richten. Es gibt dort sorgende Gemeinschaften, mit denen man sich vernetzen, die man unterstützen kann. Oder man startet eine neue Initiative, da, wo es nötig ist. Sie kann auch ganz klein sein. Care-Kultur wächst von unten. Sie braucht Zeit und Ruhe wie alles, was wächst und gedeihen soll.

Der Nachmittag wurde musikalisch umrahmt von Mich Gerber.

Referat 1. Teil  als Powerpoint
Referat 2. Teil als Powerpoint
Handout (PDF)
Artikel zum Herunterladen (PDF)

 

Text: Susanne Thomann
Fotos: Tom Kaffka

Cornelia Coenen-Marx

Weitere Informationen

Seele & Sorge (Website von Cornelia Coenen-Marx)

Kirche geht („schon jetzt“, ökumenische Initiative)

Palliative Care

Letzte Hilfe Bern