«Was, wenn demenzbetroffene Menschen Propheten sind?»

Die Seelsorgerin Antje Koehler sprach in der Friedenskirche Bern anlässlich der Bernischen Diakoniekonferenz 2023 darüber, wie Kirchgemeinden im Besonderen und Gesellschaften allgemein Demenzsensibilität herstellen können.

«Stellen Sie sich vor es hätte ganz anders angefangen.» So begann Antje Koehler ihren Vortrag. Sie liess die versammelten Expert:innen das Erleben eines dementen Menschen nachempfinden, der sich am falschen Ort einfindet, nirgendwo angemeldet ist, anfängt in seinen Dokumenten zu wühlen und mit konsternierten Blicken taxiert wird. «Sie fangen an, an sich und der Welt zu zweifeln.» Kein Schauspiel habe sie mit diesem Einstieg inszenieren wollen, sondern den Versammelten eine Erfahrung geben, wie es sich anfühle, wenn Verwirrung, Stress und Scham zusammenkämen. Mit Flucht auf so eine Situation zu reagieren, sei keine spezifisch demente, sondern eine menschliche Reaktion. Es ginge deshalb darum, «menschensensibler» zu werden. «In demenzfreundlichen Gesellschaften stehe weniger die Demenz im Vordergrund, vielmehr werde Vielfalt nicht als Bedrohung wahrgenommen.

Koehler fragte schliesslich die Anwesenden, wie sie sich Demenzsensibilität als Fortbewegungsmittel vorstellten. Ein Dampfer, der schwer in Bewegung zu bringen ist? Oder ein unbekanntes Flugobjekt? Koehler verwies auf den Theologen Reimer Gronemeyer, der meinte, wenn es um eine Gemeindeeinrichtung ginge, müssten wir mehr auf uns schauen, statt auf die demenzbetroffenen Menschen. Was fehlt uns als Sozialraum, als Kirchgemeinde?

Langsamer und bewusster

Koehler ging noch einen Schritt weiter und spitzte die Frage zu: «Was, wenn demenzbetroffene Personen Propheten sind, die nichts zählen im gleichen Land, aber etwas Wichtiges zu sagen haben?» Statt höher, schneller, weiter, könnten sie uns lehren bewusster und langsamer vorzugehen. Koehler sprach schliesslich über ihre mehrjährige Erfahrung in der Begleitung von Kirchgemeinden, die demenzsensibler unterwegs sein wollen. «Es hat sich gezeigt, dass Kulturen wachsen müssen.» Es sei kein Thema, für das sich alle begeisterten, weshalb man den moralischen Kampfmodus rausnehmen müsse. «Was können wir tun, damit das Miteinander leichter wird?» Es gäbe keinen 10-Punkte Plan, sondern lediglich Bedingungen, die eine inklusive Kultur wachsen lassen würden. «Teilhabe beginne im Kopf – aber – es braucht dazu auch Bauch, Hände, Herz und Füsse.»

Die Plauderkasse

Die erste Schwierigkeit, um Erfahrungen zu machen, liege darin, dass Menschen mit und ohne Demenz oft gar nicht zusammenkämen. 60 -70 % der Menschen mit Demenz würden Zuhause versorgt. Ausserdem würden Altersheime oft nicht als Orte der Kirchgemeinde betrachtet. «Die Seelsorge wird delegiert», so Koehler. Es brauche einen Missionsauftrag. Die Referentin forderte schliesslich die Expert:innen auf, Die Referentin forderte schliesslich die Expert:innen auf sich zu überlegen, wie oft ihnen Menschen mit Demenz im Alltag auffielen.

Dabei kam heraus, dass mehr als die Hälfte «einmal monatlich» oder «so gut wie nie» angab. Woran liegt es, dass demenzbetroffene Menschen im öffentlichen Raum so selten zu sehen sind? 150'000 Menschen leben in der Schweiz mit diagnostizierter Demenz. Alle 16 Minuten erkrankt neu eine Person an Demenz. Damit diese Menschen sichtbar würden, braucht es Austausch, so Koehler. Was braucht es, damit demenzerkrankte Menschen weiterhin im Supermarkt einkaufen gehen? Koehler lieferte zwei Ideen aus Köln: Einen Stuhl oder eine Bank. In Holland habe man gar in einem Supermarkt eine Plauderkasse eingeführt. Hier könnten Kundinnen und Kunden, die es nicht eilig haben, mit den Kassierer:innen plaudern. «Ich wollte mit dem Geschäftsführer sprechen», so Koehler. Dieser habe ihr erzählt, dass die Plauderkasse bei allen Mitarbeiter:innen weitaus die beliebteste sei.

Klammheimlicher Rückzug

Isolation und Ausgrenzung seien hingegen fatal. «Viele von Demenz betroffene Menschen ziehen sich klammheimlich zurück.» Das seien Prozesse, die auch in den Kirchgemeinden stattfänden. Doch was sind Ausgrenzungsfaktoren? Ein fehlender Fahrstuhl oder einer, der nicht gut ausgeschildert sei, eine Toilette, die nicht behindertengerecht ist, das alles kann für Menschen mit Demenz ausschliessend wirken. «Stühle mit Armlehnen, die viele brauchen, um wieder hochzukommen können hilfreich sein.» Es komme auf Kleinigkeiten an, wie einen Aufkleber mit «Achtung Stufe». «Sehen was ist, machen was geht», könne dabei als Motto gelten. Es ginge auch darum, innere Barrieren zu lösen. Demenzbetroffene Personen «kriegen mit, sie machen etwas falsch, aber wissen nicht warum», so Koehler.

Mir ist langweilig

Koehler nahm schliesslich ein konkretes Beispiel: Was, wenn ein Gemeindemitglied plötzlich in der Kirche laut sagt: «Mir ist langweilig, ich will nach Hause.» Böse Blicke oder das sofortige Rausbringen der Person führten dazu, dass diese sich falsch fühle. Humor und Dialogbereitschaft würden hingegen helfen, dass es leichter wird. «Tun Sie nicht so, als hätten Sie es nicht gehört.» Man könne zum Beispiel sagen: «Gut geben Sie Bescheid, aber ich führe jetzt noch meinen Gedanken zu Ende und danach singen wir ein Lied.» Theologie brauche Sinnlichkeit. Akustik sei oft ein grosses Thema. «Es wird zu lange und zu leise gesprochen.» Wie macht man deutlich, dass alle willkommen sind? Demenzbetroffene und ihre Angehörigen freuen sich, wenn sie wahrgenommen werden. Doch man müsse davon abkommen sie als Problemzielgruppe zu sehen. Vielmehr sollte man sich fragen: Was können sie einbringen? Beteiligungsmöglichkeiten schaffen, statt Hilfsangebote.

Mit Gesichtsfeldeinschränkung

Viele Menschen mit Demenz, haben eine Gesichtsfeldeinschränkung. Koehler liess die Expert:innen Papierbrillen aufsetzen, die diesen Effekt erzeugen und liess sie so in die Haut von Demenzbetroffenen schlüpfen. Schliesslich verwies sie auf die Wichtigkeit von Labels. «Bitte keine Krankheitsbilder nennen.» Der Begriff «Demenzgottesdienst» sei zu vermeiden. Scheitern gehöre zum Prozess dazu. «Auch was nicht funktioniert, ergibt Geschichten.»

Beim Fachaustausch konnten die Expert:innen schliesslich Mini-Impulse aus einem zehnminütigen Speed-Dating mit den einzelnen Arbeitsgruppen erlangen. Uli Geisler, Pfarrer der Kirchgemeinde Paulus und Sibylla Wetli, Leiterin des Alters- und Pflegeheims «Mon soleil» verwiesen darauf, dass es Mut brauche, in inklusiven Gottesdiensten eine einfache Sprache zu wählen, die alle erreiche, ohne kindlich und trivial zu sein. Die Erfahrung bisher sei gut. Natalie Hamela, Fachberaterin Alzheimer Bern sprach über die Belastung von Paaren, bei denen nur eine Person an Demenz erkrankt ist. Der Theologe Pascal Mösli sprach von spirituellen Zugängen und deren Potenzial. Das Herz werde nicht dement. Koehler fasste zusammen: «In allen drei Austauschgruppen war eine grosse «Kraft des Trotzdem» spürbar.» Es sei eine Trotzkraft, die um Verluste wüsste, das Schwere nicht schönrede, aber auch nicht in ihm stecken bleibe.  

Text: Helen Lagger
Bilder: Tom Kaffka

November 2023

Weitere Informationen

Demenz geht alle an auf diakonierefbejuso.ch
Kontakt: Miriam Deuble  und Pascal Mösli

Ein etwas anderer Gottesdienst (Film auf Vimeo)
Kontakt: Uli Geisler und Sibylla Wetli

Alzheimer Bern
Kontakt: Natalie Hamela

Präsentation Antje Köhler (PDF)
Antje Koehler: Pionierarbeit in demenzsensiblen Kirchengemeinden (PDF)
Arbeitsblatt Brille, Gesichtsfeldeinschränkung (PDF)

Begegnungsclown, Marcel Briand: www.nachttopf.ch